Schrumpfung ist Kult

Das Kulturforschungsprojekt „Shrinking Cities“ stellt die Riten und Umgangsformen vier schwindender Agglomerationen vor: Detroit, Manchester/Liverpool, Iwanowo und Leipzig/Halle

VON MICHAEL KASISKE

„Die schönste Kultstätte in Russland ist Iwanowo; die schönste Kultstätte in den USA ist Detroit; die schönste Kultstätte in England ist die Region Liverpool/Manchester; die schönste Kultstätte in Deutschland ist die Region Halle/Leipzig; Brasilien und Australien haben bis jetzt noch keine schönen Kultstätten.“ Die Paraphrase von Andy Warhols Ehrerbietung an McDonald’s trifft den Kern der phänomenologisch orientierten Inventur im Rahmen des Kulturforschungsprojektes „Shrinking Cities“. Ab September stellt es die Riten und Umgangsformen der vier schwindenden Agglomerationen im KW Institute für Contemporary Art der Öffentlichkeit vor.

Zur Erinnerung: Ende 2002 wurde das Projekt, ausgestattet mit einem 3,2 Millionen Euro umfassenden Etat, von der Kulturstiftung des Bundes initiiert. Der Anlass war das zunehmende Ausbluten der Städte in den neuen Ländern. Mit der wirtschaftlichen Umstrukturierung nach der Vereinigung beider deutscher Staaten fielen dort zahllose Industriezweige fort, fehlender Ersatz führte zum massenhaften Fortzug der Einwohner. Auf den Freiräumen brach gefallener Betriebs- und Wohnstandorte stellten sich die angesagten „blühenden Felder“ ein, aber ungewollt metaphern- und planfrei.

Das Singuläre an der Entwicklung war das rasante Tempo. Der Wandel vom Industrie- zum Gewerbe- und Dienstleistungsstandort hatte in den westlichen Bundesländern auch stattgefunden, freilich über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten mit finanziell gut ausgestatteten Förderprogrammen. Dass das nicht die Regel bei den überall auf der Welt schrumpfenden Industrieregionen ist, zeigt das Projekt anhand der ausgewählten Standorte außerhalb Deutschlands auf.

Zum Beispiel Detroit: Die den US-Amerikanern eigene Radikalität des „anything goes“ verwandelte die einst blühende Großstadt in ein urban verstepptes Terrain mit inzwischen landwirtschaftlich genutzten Flächen, zu sehen auf dem Fotopanel „Detroit Industries – Urban Agriculture“ von Ingo Vetter. Am gleichen Ort, präsentiert in der Arbeit „The Changing Landscape of the Detroit Metropolitan Area“ des Fotografen John Ganis, wird Landschaft durch suburbane Ansiedlungen ungebremst weiter versiegelt. Die Translozierung selbst der Toten führt die Videoinstallation „Moving Graves“ von DCDC/Dan Pitera und Christopher Lee und Standard Films/Jody Huellmantel und Mitch Cope vor Augen.

Wird in Amerika initiativ gehandelt, scheint Großbritannien zwischen den Polen Sozialismus und Wirtschaftsliberalität zu oszillieren. In den Städten Liverpool und Manchester, die unterschiedliche Wege gegangen sind, lässt sich keine Lanze über Ideologien brechen. Das Quartier Hulme in Manchester wurde innerhalb von dreißig Jahren zum zweiten Mal komplett abgerissen und neu aufgebaut, nachdem die im sozialen Geist der 1960er-Jahre errichteten Wohnblöcke – wie die Installation „Remember Tomorrow: Hume as Urban Myth“ von Newbetter/Joshua Bolchover und Shumon Basar darstellen wird – zum gefährlichsten Ort der Stadt reüssiert waren. Sonst lediglich in Entwicklungsländern geläufige Existenzen, die vom Wiederverwerten des Mülls leben, zeigt die bereits vor dem Projekt entstandene Langzeitdokumentation „Benny Profane“ von Ken Grant, die als Produkt des in der Arbeit „Re- Imaging the City“ von Bolchover und Kevin Ward dargestellten Wandels von Sozialismus zum privaten Unternehmertum betrachtet werden kann.

Die zu Beginn des Projekts gehegte Befürchtung, die jeweiligen Stadtentwicklungen könnten nivelliert werden, erfüllte sich nicht. Auch Iwanowo zeigt eine nationale Prägung: Viel näher an die bloße Existenz rückte hier die Recherche, denn in der Russischen Föderation kann sich keiner auf ein gefestigtes soziales oder normatives System stützen. Deshalb überrascht das Leporello „Anleitung zum Überleben“ von Sawwa und Sergei Miturich genauso wenig wie die Dokumentation von Objekten namens „Erfindungen des täglichen Bedarfs“ von Wladimir Archipow. Viel gegenwärtiger als in den USA oder England ist hier der Zusammenbruch der Industrie, zu sehen in der Arbeit „Fabrika“ von Elena und Wera Samorodowa, und die Aufgabe jeglicher städtischer Entwicklung, die der Fotograf Bas Princen in „After Planning #3“ zeigt.

Verglichen mit diesen Exempeln mögen die Menschen in der Region Halle/Leipzig erleichtert aufatmen. Die Entwicklung ist in Deutschland trotz des Tempos sozial geprägt, wie die Diskussion über Rechtsradikale in wirtschaftlich schwachen Regionen, dokumentiert von Anke Hagemann und Heidi Stecker in „Leipzig streitet um das Kirschberghaus“. Die Veränderungen der Räume im alltäglichen Leben stellt die Arbeit „Orbit Palast – Indizien für Typen und Räume freigesetzter Zeit“ von der Gruppe niko.31 und Nils Emde dar, wohingegen die Hintergründe der Altschuldenregelungen und Stadtumbauprogramme von Rochus Wiedemer in dem Comic „Stadtumbau in Wolfen“ nahe gebracht werden. Dieser aufklärerische Ansatz ist die Ausnahme. Das überwiegende Ästhetisieren des Schrumpfens läuft hingegen Gefahr, nicht über einen populären, eben Kultstätten eigenen Romantizismus zwischen Ruinen und Subkultur hinauszuweisen.

4. September bis 7. November, KW Institute for Contemporary Art, Auguststr. 69, Di.–So. 12–19 Uhr, Do. bis 21 Uhr. Katalog: Hatje/Cantz, ca. 25 € www.shrinkingcities.com