Die olympische Schizophrenie

Die Griechen wollten unbedingt Landsleute siegen sehen – doch die Helden hatten gedopt. Statt Stolz empfindet Athen nun eine einzigartige Schande

VON NIELS KADRITZKE

„Kenteris, Kenteris!“, brüllten die Athener Zuschauer, bevor das 200-Meter-Finale der Männer am Donnerstagabend gestartet werden konnte. Der Anblick der muskelbepackten US-Sprinter, die anschließend alle drei Medaillen gewannen, setzte Gefühle frei, die einen schizophrenen Bewusstseinszustand offenbarten. Zehn Tage zuvor, als der griechische 200-Meter-Olympiasieger sich in wilder Flucht einer Dopingkontrolle entzogen hatte, hatten die allermeisten Griechen noch konsterniert und zerknirscht reagiert. Aber am Donnerstag schien alles vergessen. Der Trotz einer kleinen Nation brach sich freie Bahn. Als wollte man der Welt ins Gesicht schreien: Unseren Helden hat man gestoppt, aber die Großen lässt man laufen.

Die Mischung aus verletztem Nationalstolz und verletztem Gerechtigkeitsempfinden gehört zu den fataleren hellenischen Spezialitäten. Doch im Fall Kenteris werden andere Zusammenhänge deutlich, die über das griechische Beispiel hinausweisen.

Noch einen Tag vor dem 13. August wusste es ganz Athen: Kostas Kenteris würde am Ende der Eröffnungsfeier die olympische Flamme entzünden. Doch hinter den Kulissen tobte ein erbitterter Konflikt zwischen dem Athener Organisationskomitee Athoc und Christos Tsekos, dem Wundertrainer des griechischen Volkshelden, der in Sydney eine Goldmedaille gewonnen hatte. Denn Tsekos hatte der Athoc-Chefin Angelopoulou mitgeteilt, sein Schützling könne zur Eröffnungsfeier nicht in Athen sein. Nach hektischen Diskussionen konnte Tsekos von den Athoc-Leute doch noch überredet werden, seinen Star für die Eröffnungsfeier abzustellen. Das Risiko, dem sich Kenteris und seine Sprintkollegin Katerina Thanou aussetzten, war beiden Seiten bekannt. Wenn die Schützlinge von Tsekos vorzeitig ins olympische Dorf einzogen, waren sie für die Dopingkontrolleure des IOC jederzeit greifbar. Am Ende taten sie es nur, weil sie von „hoher Stelle“ die Zusage bekamen, man werde sie unter „abgesicherten Bedingungen“ kontrollieren.

Die von der Zeitung To Vima aufgedeckte Geschichte ist plausibel. Denn sie erklärt, warum die beiden Athleten, deren Vorbereitungstraining eine einzige Flucht vor den internationalen Dopingkontrolleuren gewesen war, am Ende doch noch in die Falle tappten. Die vielen Rollen, die sie ausfüllen mussten, waren miteinander inkompatibel geworden. Für die Veranstalter war Kenteris der Volksheld. Für Trainer Tsekos war er das Kapital, das elf Tage später eine zweite Goldmedaille einspielen sollte. Für den neuen IOC-Chef Rogge jedoch, der Athen zur ersten Runde im Kampf für „clean games“ ausgerufen hatte, war Kenteris die Person, an der sich die Ernsthaftigkeit und Effizienz ihrer Dopingkontrollen zu bewähren hatten.

„Je mehr Medaillen für das Veranstalterland, desto erfolgreicher die Spiele“, lautet die Parole, die der frühere IOC- Präsident Samaranch ausgegeben hatte. Für das kleine Griechenland war diese Vorgabe schwerer zu erfüllen als für eine Sportgroßmacht wie Australien. Nur diese vorolympische Konstellation erklärt, warum auch die Figur unantastbar blieb, die sich auch nach griechischen Maßstäben als „böser Bube“ geradezu anbot. Christos Tsekos ist nicht nur Trainer, sondern auch Manager und Arbeitgeber von Kenteris und Thanou. Auf deren Olympiaruhm hat er ein kommerzielles Imperium aufgebaut, das Sportverbände und private Sportstudios mit einschlägigen Nahrungsergänzungsmitteln beliefert. Dabei importiert er auch die Mittel der kalifornischen Firma Balco, die inzwischen als Sumpfgrund der US-Dopingszene identifiziert wurde.

Was Tsekos heute ist, verdankt er seiner Ausbildung und seinen Kontakten in die USA. Doch zum Vater des griechischen „Sportwunders“ konnte er nur werden, weil er seine Kenntnisse aus der Hightech-Dopingszene in einem Umfeld anwenden konnte, das mit seiner engen Verflechtung von Sport und Politik an die staatlichen Sportsysteme der alten Ostblockländer erinnert.

Der smarte Sportunternehmer hatte den Bedarf an Helden klar erkannt. Und er hielt sich für so unangreifbar, dass er der Regierung vorschlagen konnte: Gebt mir 6 Millionen Euro, und ich produziere euch noch mehr Olympiasieger. Der Plan trug den Kodenamen „Korivos“ und einen leicht erkennbaren Makel: Die 150 Spitzenathleten, die Tsekos unter seine Fittiche nehmen wollte, waren auszubilden mit Hilfe „besonderer Substanzen (die der Dopingkontrolle unterliegen) und der Zusammenarbeit mit speziellen Labors“. Noch deutlicher wurde Tsekos gegenüber dem zypriotischen Sportverband, dem er im Juni 2002 einen ähnlichen Plan vorlegte. Für 3,5 Millionen Euro wollte seine Firma mit Namen „Altius-citius-fortius“ die griechischen Zyprioten in allen Disziplinen olympiareif machen. Im Vertragsentwurf verbat er sich ausdrücklich jede „Aufsicht oder Kontrolle über Nahrungsergänzungsmittel“, die seine Firma den Athleten verabreichen wollte.

Die Regierungen in Athen wie in Nikosia sind auf die Pläne von Tsekos nicht eingegangen. Doch der Vorgang verweist nur auf das ganze Ausmaß der staatlichen Beteiligung. Denn niemand in Athen, auch nicht der zuständige Sportminister Giorgos Lianis, kam auf die Idee, dem bekennenden Dopingsünder Tsekos das Handwerk zu legen. In To Vima wurde es so formuliert: „Alle wussten Bescheid über Herrn Tsekos, der sich überaus sicher sein konnte und völlig unkontrolliert agierte.“

Die griechischen Sportverbände wurden in der fraglichen Zeit ziemlich lückenlos von Funktionären der regierenden Pasok kontrolliert. Der Leichtathletikverband (Segas) spielte in der Tsekos-Strategie eine höchst aktive Rolle. Seine Funktionäre benannten dem internationalen Verband die Trainingsorte von Kenteris und Thanou, an denen sie von den Dopingkontrolleuren nie angetroffen wurden. Da Medaillen ausschlaggebend für die staatlichen Förderungsleistungen waren, wurde Doping zur Existenzgrundlage der einzelnen Verbände. Ein Sportfunktionär hat es so ausgedrückt. „Innerhalb des staatlich alimentierten Sportbetriebs ist ein Verband ohne Medaillen wie eine Bank ohne Geld.“

Heute spricht ganz Griechenland von einem „Schattenstaat“ der Funktionäre und ihrer politischen Patrone, der jenseits aller Gesetze und Regeln operieren konnte. Diese Systemkritik, in denen die Griechen die Schwächen ihrer ganzen Gesellschaft wiedererkennen, hat die Tendenz, die einzelnen Athleten als „Opfer des Systems“ zu sehen. Der böse Bube Tsekos hingegen zeigt nur eine sympathische Seite. Er hat über sein System immer offen Auskunft gegeben. „Als gedopt kann ein Athlet nur gelten, wenn er bei Kontrollen erwischt wird“, war die Standardantwort, die er auf kritische Fragen gab. Diese zynische Prämisse scheint das griechische Publikum im Auge zu haben, das beim 200-Meter- Finale von Athen seinen gefallenen Helden Kostas Kenteris feierte.