Mit einem blauen Auge

Die Olympiabilanz der deutschen Sportführer fällt nicht gerade überschwänglich aus. Einigkeit herrscht, dass es viel zu tun gibt, unklar ist jedoch, ob erst geredet oder gleich gehandelt werden soll

„Man hat gesehen, dass Veränderungen im Spitzensport notwendig sind“

AUS ATHEN FRANK KETTERER

Es ist der letzte Tag, und auch im Deutschen Haus riecht es nach Abschied. Große Kisten werden gepackt, Computer entkabelt, Kühlschränke geleert. Olympia ist am Ende angekommen, und natürlich ist nun die Zeit, Bilanz zu ziehen. Weil es das Deutsche Haus ist, wird es eine deutsche Bilanz werden. Auf dem Podium sitzen Klaus Steinbach, der NOK-Präsident, sowie Ulrich Feldhoff, der für den Leistungssport zuständige Vizepräsident des Deutschen Sport-Bundes (DSB). Steinbach wirkt bei solchen Gelegenheiten immer unsicher und nervös, ein bisschen wie ein Pennäler, der eine Prüfung abzulegen hat und schon vorher weiß, dass es wieder in die Hose geht. Jetzt aber gibt sich der Präsident nicht als Schüler, sondern als Schulmeister. Benotet wird der deutsche Sport, der es (vor dem Handballfinale) auf 14-mal Gold, 15-mal Silber und 18-mal Bronze gebracht hat, für Steinbach kein unwichtiges Indiz ist bei der Beurteilung. Er sagt: „Ich bin froh, dass wir eine saubere deutsche Mannschaft am Start hatten, und dass diese Mannschaft unser Land würdig vertreten hat.“

Er sagt aber auch, dass es Mannschaftsteile gegeben habe, „die die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnten“. Dann macht sich Schulmeister Steinbach an die Einzelbenotung der Klassen und stellt Zeugnisse aus: Judo und Boxen: „Sicherlich gute Ergebnisse.“ Ringen: „Sicherlich weniger erfolgreich.“ Kanuten: „Überaus erfolgreich.“ Schwimmen: „Hätte mehr sein können.“ Schießen, Radsport und Reiten: „Ansprechende Leistungen.“ Segeln: „Schwächstes Ergebnis seit langem.“ Leichtathletik: „Schlechteste Olympiabilanz, die wir je hatten.“

„Nicht zufrieden stellend“ war für den NOK-Präsident auch die Endkampfbilanz. Erreicht haben diesen nur 55 Prozent der 453 nominierten deutschen Athleten. Insgesamt würde Steinbach der Mannschaft wohl eine Drei ins Büchlein schreiben, befriedigend also, auch wenn er das so nicht sagt. Dafür formuliert er: „Man hat gesehen, dass Veränderungen im deutschen Spitzensport notwendig sind.“ Und er will natürlich auch nach den notwendigen Veränderungen noch der Schulmeister sein. Aber auch das würde Steinbach so offen nie sagen, vielmehr müsse die Reihenfolge sein: „Erst mit den Partnern des Spitzensports über Ziele und Inhalte sprechen, dann über neue Strukturen, dann über Personen.“ Unmissverständlich klar macht Steinbach aber auch: „Das NOK will in Zukunft stärker an der Entwicklung des Spitzensports teilhaben.“

Dann ist Steinbachs Schulmeisterrede zu Ende, und wie immer, wenn der NOK-Präsident sich als Staatsmann zu geben versucht, war viel Blabla und weit weniger Substanzielles dabei. Da ist es nur gut, dass auch Ulrich Feldhoff da oben sitzt auf dem Podium. Feldhoff ist ein alter, knorriger Mann, aber er ist auch ein großer Strippenzieher im deutschen Sport. Vor allem ist er ein knallharter Analytiker, der ins Detail geht, wo Steinbach nur an der Oberfläche gekratzt hat. Und er präsentiert Therapien, wo der NOK-Präsident nur Symptome benannt hat. Feldhoff sagt, dass der deutsche Sport gerade noch mal „mit einem blauen Auge“ davongekommen sei. Und er sagt auch, dass es noch nie so gravierende Unterschiede zwischen den einzelnen Sportarten gegeben habe. Feldhoff meint damit den Trend, entweder völlig zu versagen oder total erfolgreich zu sein. Unter Punkt eins fallen vor allem die Leichtathleten und auch die Schwimmer, unter Punkt zwei die Kanuten, deren Präsident Feldhoff ist. Das Dumme daran: Leichtathletik und Schwimmen sind unvermindert die beiden Kernsportarten Olympias. „Wenn wir uns hier nicht ganz entscheidend verbessern, können wir es in vier Jahren in Peking vergessen, unter die ersten fünf der Medaillenwertung zu kommen“, prophezeit Feldhoff darum schon jetzt.

Dabei sind es ja keineswegs nur die Medaillen, die die Leistungsstärke einer Mannschaft indizieren. Auch darauf geht Feldhoff ein. 199 Platzierungen jenseits von Rang elf stehen lediglich 157 zwischen Rang eins und zehn gegenüber. „Das muss jeden Verantwortlichen sehr nachdenklich stimmen“, sagt Feldhoff sehr nachdenklich. Dass der Trend nach unten geht, zeigt der Vergleich mit Sydney. Nicht nur, dass dort 56 Medaillen erreicht wurden, auch der Endkampfanteil der deutschen Sportler lag mit 70 Prozent weitaus höher. Für Feldhoff ist Dabeisein keineswegs schon alles, weswegen er unter anderem „verschärfte Nominierungskriterien“ fordert.

Feldhoff benennt aber auch Beispiele, die Hoffnung geben, die Judokas zum Beispiel. In Sydney gingen die leer aus, hier holten sie vier Medaillen. „Da haben die Verantwortlichen schnell reagiert“, nämlich mit der Konzentration auf nur noch zwei Stützpunkte. „Das ist der Beleg dafür, dass es auch in Deutschland möglich ist, mit einem überzeugenden Konzept innerhalb eines Olympiazyklus wieder an die Weltspitze zu kommen“, sagt Feldhoff. Dabei sei es keineswegs so, dass es an Nachwuchs mangele. Bei der Addition der Medaillen bei Junioren-Weltmeisterschaften aller olympischen Sportarten liege Deutschland zum siebten Mal in Folge vorn. „Das ist eine glänzende Ausgangsposition, um die uns die ganze Welt beneidet“, weiß Feldhoff. Nur werde daraus zu wenig gemacht. „Wir haben ein Riesenproblem, die Sportler von der Jugend in die nationale und von dort in die internationale Spitze zu führen.“ Stichwort Absicherung, Stichwort Berufsausbildung, Stichwort Sportförderung an den Universitäten. „In anderen Ländern ist das einfach besser geregelt.“

Es gibt also viel zu tun, Peking ist ja schon in vier Jahren. „Wir haben keine Zeit für Diskussionen“, findet Feldhoff, der Mann vom DSB, aber der Mann vom NOK schaut schon wieder so komisch. Wie es sich Klaus Steinbach vorstellt, hat er bereits angekündigt: „Wir müssen über all dies konstruktiv streiten.“ Irgendwie müssen die vier Jahre bis Peking ja gefüllt werden.