Das Prinzip Moses

Die SPD-Spitze verklärt die Niederlage zum notwendigen Opfer für das gelobte Land 2010

aus Berlin PATRIK SCHWARZ

„Das finde ich so langweilig und peinlich!“ Ganz gleich, wie sehr seine Partei in Bayern abgestürzt ist, eines hat sich Olaf Scholz schon geschworen, ehe er Generalsekretär wurde: Nie wolle er so tief sinken, eine Wahlniederlage schönzureden mit dem Satz, die SPD habe ihre Politik eben nicht „vermitteln“ können. „Das habe ich schon 5.000-mal gehört!“

Und so hat der Generalsekretär sich selbst, seinem Boss Gerhard Schröder und allen anderen irgend kameratauglichen Genossen für den gestrigen Montag einen neuen Gedanken aufgeschrieben, die 5.001. Erklärung sozusagen für das schier unerklärlich schlechte Abschneiden in Bayern. „Der Grund ist klar: Wir sind mitten in einer schwierigen Reformphase“, trägt ein kurz angebundener Kanzler am Montagmorgen im Willy-Brandt-Haus den neuen Dreh vor. „Die Menschen sind so zwiegespalten, wie wir das auch sind“, versucht Scholz den Brückenschlag zwischen Parteispitze und -basis. Der Verstand verlange nach Reformen, dem Herzen sei noch bange. Ehrlicher soll das klingen, weniger wählerverhöhnend als der Unfug der „Vermittlungsprobleme“, vor allem aber tapferer: Wir wissen, ihr leidet, doch wir leiden mit euch – und eure Not hat einen Sinn. Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter sieht darin „das Moses-Prinzip“ am Werk: Hinter der Wüste wartet das gelobte Land. Schröders Parole wäre demzufolge nicht falsch, der SPD-Vorsitzende müsste sie nur mit Leben erfüllen.

Die Chancen beurteilt Walter skeptisch. „Sozialdemokraten erwarten von Reformen mehr, als dass sie ein fiskalisches Problem lösen“, sagt der Autor des Standardwerks „Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte“. Je höher die geforderten Opfer seien, desto klarer müsse das Ziel ausgemalt werden. Genau daran sei Rot-Grün bislang gescheitert. „Die Regierung hat nur eine Agenda 2010, aber keine Idee der Gesellschaft 2010“, meint Walter. Sein Anspruch ist durchaus bescheiden: „Ein gesellschaftliches Bild mittlerer Reichweite“ würde ihm schon reichen.

Doch davon ist auch nach der dritten SPD-Niederlage seit der glorios knapp gewonnenen Bundestagswahl nicht viel zu bemerken. In Bayern gibt es künftig nur noch eine Volkspartei, der SPD-Landesvorsitzende Wolfgang Hoderlein hat seinen Rücktritt erklärt – und die SPD in Berlin berät erst mal ihren Leitantrag für den Parteitag im November. Immerhin, ein kurzes Aufflackern von programmatischer Streitlust hat sich die Partei in den letzten Tagen gegönnt. Die Ministerin und Vizevorsitzende Heidemarie Wieczorek-Zeul hatte in einem Protestbrief den Antragsentwurf von Olaf Scholz auseinander genommen. Sie insistierte, auf dem Parteitag brauche es Orientierung: Wie hält es die Gerd-Schröder-SPD mit der sozialen Gerechtigkeit? Die Wähler in Bayern, so zeigen die Analysen, brauchten keinen Parteitag für ihre Antwort. Sie halten inzwischen die CSU für gerechtigkeitsbewusster als die Genossen. Zur Not könnten die Sozialdemokraten damit sogar leben – wenn ihnen im Umkehrschluss für ihre Reformbemühungen eine erhöhte Wirtschaftskompetenz gutgeschrieben würde. Doch davon wissen die Wahlforscher nichts zu berichten.

So zahlt die SPD im Augenblick einen hohen Preis, ohne dass abzusehen ist, ob sie je etwas dafür erhält. Scheitern nun auch noch die Reformen im Bundesrat, würden die Versprechungen des Moses Gerhard Schröder endgültig unglaubwürdig. Gut sind die Aussichten nicht. Zwar beteuert die Union ihre Kooperationsbereitschaft, doch will sie die Bedingungen diktieren (siehe Seite 4).

Einen Gewinner immerhin gab es dank Scholz’ Erklärung Nr. 5.001 bereits gestern: den großen Verlierer vom Wochenende, den SPD-Spitzenkandidaten Franz Maget. Ihm blieb in der Sitzung des SPD-Präsidiums am Montag jedes böse Wort erspart. Wie hatte es der Parteivorsitzende formuliert? „Der Grund ist klar: Wir sind mitten in einer schwierigen Reformphase.“