ausgehen und rumstehen
: Oh Girl: Drinks treten im 103

Eigentlich ist es ja der Traum eines jeden DJs, der Zielfokus eines jeden Auflegeabends, das, was man noch seinen Enkeln zu erzählen sich vornimmt: die Leute so weit zu bringen, dass sie auf den Tischen tanzen. Es sei denn, man legt in der trotz des hohen Hipness-Faktors doch einigermaßen gesetzten Bar 103 in der Kastanienallee an der Ecke zur Zionskirchstraße auf, wo allabendlich eine Mischung aus Maxim Biller, spanischen Szene-Touristen und Kreativ-Agenturangestellten jeden Geschlechts zu Hause ist. Man lässt den Laden vor sich hin grooven, spielt so großartigen Schmierlappensoul wie „Oh Girl“ von den Chi-Lites für das Pärchen, das sich in einer Ecke gegenübersitzt, offensichtlich gerade sein erstes Date hat und zum ersten Kuss ansetzt, freut sich an der Macht, die es bedeutet, diesen beiden Menschen gerade bis ans Ende ihrer Tage ihr Lied verpasst zu haben, und pichelt ansonsten vor sich hin.

Klar wird auch hier ab und zu getanzt, doch das ist dann eher ein gepflegtes Hüftschwenken und kein wirkliches Tanzen, eine Tanzfläche gibt es ja eh nicht und wirklich laut machen kann man auch nicht. Wenn hier eine Frau auftaucht, die erst wild zwischen den Gästen umhertanzt, bevor sie zusammen mit ihrem Begleiter den Sprung auf einen der Tische wagt, um dort oben zu tanzen, wobei sie die Drinks von ein paar dezent vor sich hin wippenden Mädchen umkippt – so kommt einem das vor, als sei sie einem Riss im Raum-Zeit-Kontinuum entstiegen.

Zum einen mag man natürlich die Geste der Transgression, dieses Abrufen einer in der Musik verkapselten Erinnerung daran, dass das gepflegte Thekenwippen vielleicht doch nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Auch das gleichzeitige Hin- und Wegschauen ist interessant: dieser eigentümliche Moment, wenn Leute so tun, als ob alles ganz normal wäre, obwohl gerade eine Irre mit Augen wie Untertassen tanzenderweise anderen Gästen die Drinks vom Tisch tritt. Die Leute an den Nachbartischen unterhalten sich weiter und nehmen beiläufig ihre Gläser in die Hand, für den Fall, dass der Wahnsinn zu ihnen herüberspringen könnte.

Zum anderen aber befindet man sich auch in der Falle der Verantwortungslogik: Verpflichtet fühlt man sich schließlich vor allem dem Barpersonal, und jede Störung des normalen Gangs der Dinge bedeutet größeres Durcheinander und somit Mehrarbeit. Schlechten Gewissens macht sich schließlich ein gutes Gefühl breit, als ein Barkeeper die zwei nach draußen begleitet.

TOBIAS RAPP