Puzzle mit neuen Teilchen

Ohne den ersehnten Olympiasieg beenden einige der altgedienten Kräfte ihre Karriere im deutschen Handball-Team. Trainer Heiner Brand bleibt jedoch und hat längst mit dem Neuaufbau begonnen

„Mir ist nicht bange um den Handball. Jetzt kommen die Glückskinder“

AUS ATHEN FRANK KETTERER

Es war tief in der Nacht, als die silberne Medaille immer mehr zu glänzen begann. Zunächst, nur ein paar Stunden zuvor, als man sie den großen Männern um den Hals gehängt hatte, war sie ihnen noch matt und stumpf vorgekommen und so wertlos. Dann aber, noch in der Kabine, hatten sie ein paar Biere zum Duell gefordert, und als sie wieder auf das wertlose Ding schauten, das da vor ihrer breiten Brust baumelte, da begann es schon zu schimmern, wenn auch noch sehr sanft. Es kamen weitere Biere hinzu, auch Ouzo floss – und je mehr sie davon zu sich nahmen, um so mehr begann es zu funkeln und zu leuchten. Die großen Männer sind hart im Nehmen – und sie gaben es sich jetzt hart, sehr hart sogar. Und schließlich, der Abend war längst zum neuen Morgen geworden, strahlte die silberne Medaille so hell wie die aufgehende Sonne über Athen– und fast alles war wieder gut für die deutschen Handballer, obwohl sie doch das große Finale gegen Kroatien mit 24:26 verloren hatten und damit ihren großen Traum.

Aber jetzt stand Volker Zerbe da, der lange Kerl aus dem Rückraum, und sagte: „Von einer Olympia-Medaille habe ich schon als Junge geträumt, und jetzt bin ich sehr glücklich, dass ich sie habe.“ Zerbe sagte auch: „Ich hatte eine tolle Zeit“, und damit gemeint hat er nicht die netten Tage, die das deutsche Team hier in Athen erleben durfte, sondern all die Jahre in der Nationalmannschaft.

Zerbe ist der Dienstälteste in dieser deutschen Mannschaft. 19 war er, als er sein Debüt gab, 36 ist er jetzt, dazwischen liegen fast 300 Länderspiele für das deutsche Team. Zweitklassig war das damals, als Zerbe begann, jetzt ist es Silbermedaillengewinner bei Olympia. Im Prinzip ist es also so, dass man sich die deutsche Handball-Nationalmannschaft gar nicht mehr ohne den 2,11-m-Schlacks vorstellen kann, er war doch immer dabei. Und auch ohne Christian Schwarzer, den Mann vom Kreis, Klaus-Dieter Petersen, der immer so läuft, als habe er einen Stock verschluckt, aber in der Abwehr so unüberwindbar ist wie eine Wand, und Stefan Kretzschmar, den wilden Typen auf der linken Seite, kann und will man sich diese Mannschaft nicht vorstellen. Aber jetzt steht Zerbe da und sagt: „Für mich ist es ein sehr positiver Abschied.“ Und auch Schwarzer und Petersen und Kretzschmar könnten diesen Satz sagen, auch für sie war dieses Finale das letzte Spiel in der Nationalmannschaft.

Vielleicht ist das ja noch viel trauriger als die Niederlage gegen Kroatien: dass diese Mannschaft nie mehr in dieser Besetzung von Athen spielen wird. Dass also nicht mehr zusammen ist, was so lange zusammengehörte. Denn was soll nun aus dem deutschen Handball werden? Wie soll es weitergehen? Heiner Brand sagt: „Jetzt starten wir den Neubeginn und konzentrieren uns auf die WM 2007 im eigenen Land und auf die nächsten Olympischen Spiele.“ Das soll Hoffnung wecken und Zuversicht – und natürlich wird Brand, der große Trainer dieser großen Mannschaft, das hinbekommen, er, wenigstens er macht ja weiter.

Aber es wird seine Zeit dauern, Zerbe und die anderen sind nicht einfach zu ersetzen. Brand weiß das, natürlich weiß er das. Brand weiß alles über Handball. Nach dem Finale hat der 52-Jährige gesagt: „Was die Jungs hier geleistet haben, ist nicht hoch genug einzuschätzen.“ Brand nennt seine Mannschaft sehr oft „die Jungs“. Es sind seine Jungs. Er sagt auch: „Ich bin ein bisschen stolz auf sie.“

Christian Ramota, der Torhüter, der hier nur wenig Einsatzzeit bekommen hat, weil Henning Fritz auf geradezu überirdischem Niveau spielte, hat über Brand einmal gesagt: „Er hat mit dieser Mannschaft über Jahre hinweg ein großes Puzzle zusammengefügt.“ Und man kann sich richtig vorstellen, wie Brand, dieser Stoiker, zu Hause in Gummersbach sitzt, und Teilchen an Teilchen fügt, wieder herausnimmt, umdreht, es mit einem anderen Teilchen versucht und sich zwischendurch mit den Fingern seinen wilden Schnauzbart glatt streicht. Brand hat wirklich mit einem ziemlich kleinen Puzzle angefangen, damals, 1997, als die deutsche Mannschaft gerade die WM-Qualifikation verpasst hatte. Aber dann wurde das Puzzle größer, von Jahr zu Jahr, und erfolgreicher. Erst schafften es die Deutschen regelmäßig ins Viertelfinale der großen Meisterschaften, dann ins Halbfinale – seit zwei Jahren sind sie in jedem Finale mit von der Partie: 2002 wurden sie Zweiter bei der Europameisterschaft, ein Jahr später Zweiter bei der WM (ebenfalls gegen Kroatien). Und in diesem Januar holten sie sich bei der EM endlich den ersehnten Titel.

Es könnte also so weitergehen mit den deutschen Handballern, aber es geht nicht. Brand sind ja ein paar Teile aus seinem Puzzle gebrochen, und jetzt muss er sich wieder hinsetzen und wieder Teilchen suchen und einfügen und drehen und wenden. Neue Teilchen, so wie Christian Zeitz und Pascal Hens zum Beispiel. Schon vor zweieinhalb Jahren hat Brand sie in sein Puzzle eingebaut, um es noch größer zu machen – und um vorbereitet zu sein, wenn ein paar ältere Teilchen gehen, irgendwann musste das ja mal kommen. Und jetzt sind Zeitz und Hens 23 und 24 – und schon Europameister und Vizeweltmeister und Silbermedaillengewinner bei Olympia. „Glückskinder“, nennt Christian Schwarzer sie deshalb, weil er so viel länger spielen musste, um einen Titel zu gewinnen und all die Medaillen, bevor seine Karriere zu Ende gehen konnte, hier bei Olympia. Wörtlich sagt Schwarzer: „Mir ist nicht bange um den deutschen Handball. Jetzt kommen die Glückskinder.“