Muktadas Hauptquartier

„Wir leben hier zwischen zwei Feuern gleichzeitig – Sadr und die Regierung“

AUS BAGDAD INGA ROGG

Mohammed Raschid ist kein leichtsinniger Mann. Es ist die pure Not, die ihn in diesen Tagen dazu bringt, den Betrieb seiner kleinen Reparaturwerkstatt aufrechtzuerhalten. Der Mechaniker aus Sadr City hat eine zehnköpfige Familie zu ernähren. „Meine Kinder wollen essen, ob Krieg ist oder nicht“, sagt Mohammed. Kämpfe hat es in dem schiitischen Armenquartier im Norden von Bagdad in den letzten Monaten immer wieder gegeben, besonders schlimm wurde es aber erst wieder in den letzten Wochen. Zeitgleich mit dem Ausbruch der Gewalt in Nadschaf haben die Milizionäre des Predigers Muktada al-Sadr auch in Sadr City zum Sturm auf die irakische Interimsregierung und die Amerikaner geblasen. Trotzdem setzt der 45-Jährige seine Arbeit fort – so gut es eben geht.

Obwohl erst früher Vormittag, sieht Mohammed Raschid aus, als hätte er einen Zehnstundentag hinter sich. Um ihn herum türmen sich chinesische Nähmaschinen, die eigentlich reif fürs Museum sind. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. Es gibt wieder einmal keinen Strom. Für den Familienvater stehen die Schuldigen fest – die Regierung und vor allem die Amerikaner, von denen er nichts als leere Versprechungen höre.

Diese werfen ihrerseits Muktada al-Sadrs Mahdi-Armee vor, mit ihren Nadelstichoperationen den Aufbau zu verhindern. „Nein“, widerspricht Raschid, „wir kämpfen gegen die Besatzung, und das ist unser gutes Recht.“ Es klingt ein wenig störrisch, aber genau das ist es, was den Menschenschlag in dem Zwei-Millionen-Einwohner-Vorort, in dem vornehmlich Schiiten leben kennzeichnet. Rebellion und Revolution haben unter den aus dem Süden zugewanderten Tagelöhnern und Habenichtsen eine lange Tradition. Selbst Saddam Hussein ist es nie ganz gelungen, sie zu unterwerfen. Damals selbst noch in der Opposition, haben irakische Politiker gern auf den Millionenvorort hingewiesen, um zu illustrieren, wie wenig der Despot das Land im Griff habe.

Heute gehört Sadr City den Jugendlichen und Kindern in schmuddliger Kleidung, die sich als Hüter von Recht und Ordnung aufführen. An einer Straßenkreuzung regeln sie den Verkehr, der Älteste ist Mitte zwanzig, der Jüngste höchstens zehn Jahre alt. Einer hat lässig eine Kalaschnikow um die Schulter gehängt. Wild fuchtelnd brüllen sie vorbeifahrenden Autofahrern Anweisungen zu. Mit einer Armee, wie Muktada al-Sadr seine vor einem Jahr ins Leben gerufene Miliz nennt, hat das wenig zu tun. Eher erinnern sie an eine Jugendgang.

Doch die Zeiten sind vorbei, in denen die Kämpfer nicht mehr als ein Schlägertrupp waren, der als selbst ernannte Sittenpolizei Alkoholläden, Kinos und Videotheken in Brand setzte. Mittlerweile bekämen sie Schützenhilfe von ehemaligen Offizieren, sagt der Kämpfer Hussein al-Gharrawi. Dabei haben sie auch den Umgang mit Sprengstoff gelernt. Das Ergebnis dieser Art der Fortbildung lauert heute an den von den Amerikanern genutzten Zufahrtsstraßen – Sprengstofffallen, die durch Drähte mit einem Fernzünder verbunden sind. „Für die Zivilisten sind sie keine Gefahr“, behauptet Gharrawi, „denn wir kontrollieren sie genau.“ Das klingt wie ein schlechter Witz, denn die selbst gebastelten Bomben können jederzeit zufällig hochgehen. Aber für solche Feinheiten hat der Soldat Gharrawi wenig Sinn. Er ist noch ganz beseelt von seinem Einsatz in Nadschaf.

Beinahe drei Wochen war Gharrawi bei den Kämpfen dort im Einsatz. „Süß wie der Aufbruch in die Verheißung waren die Gefechte“, sagt der 32-Jährige. Bei einem Glas Granatapfelsaft gönnt er sich an einem Marktstand mit einer Gruppe Gleichgesinnter eine Verschnaufpause. Sie alle haben in Nadschaf gekämpft, selbst der alte Fischverkäufer Hussein Ali. Obwohl er eine Großfamilie zu versorgen hat, ließ er nach dem Aufruf al-Sadrs alles stehen und liegen und machte sich auf den Weg.

In ihren Augen gingen sie in Nadschaf nach dem Machtwort von Großajatollah Ali al-Sistani, der die Milizionäre am vergangenen Freitag zum Abzug aus dem Heiligtum zwang, keineswegs als Verlierer vom Feld. „Die Amerikaner wollen unter uns Schiiten Zwietracht säen“, mischt sich Ahmed al-Jasseri in das Gespräch. Der 30-Jährige, der als Einziger in der Runde einen Bart trägt, ist Kommandeur einer Einheit der Mahdi-Armee. „Diese Zwietracht haben wir durch den Zusammenschluss der geistlichen Führung verhindert.“ Gebannt hängen ihm die Jüngeren an den Lippen. „Zusammen mit den Juden wollen sie die Ankunft des Mahdi verhindern“, fährt Jasseri das ideologische Sperrfeuer fort. „Das werden wir aber nicht zulassen.“ Während viele Schiiten vor einem Jahr in dem Einmarsch der Amerikaner noch eine göttliche Fügung sahen, hat Muktada al-Sadr dies inzwischen ins Gegenteil verkehrt. Die Übermacht habe das Land nur deshalb besetzt, um die Wiederkehr des verborgenen Imam, des Mahdi, zu verhindern. Bei den jungen Männern am Fruchtsaftstand kommt al-Sadr damit gut an. Es ist ein Stück Verheißung in einer sonst trostlosen Welt, die sie dem Rattenfänger nur zu gerne folgen lässt. Zumal der Eiferer auch in anderen Punkten an tief sitzende Gefühle von Schiiten appelliert.

Neben den Plakaten, die ihn mit erhobenem Finger und finsteren Blick zeigen, kann man in Sadr City auch immer wieder Heldenbilder sehen, die den legendären Märtyrer Imam Hussein, der vor 1.300 Jahren in Kerbela den Tod fand, in der Mitte von Sadrs Vater und Onkel zeigen, die beide vom Saddam-Regime getötet wurden. Aber auch mit seinen Selbstinszenierungen als Widerstandskämpfer, der notfalls bereit ist, gegen die Amerikaner einsam in den Tod zu ziehen, lässt er die Erinnerung an Imam Hussein neu aufleben.

Während es für die Jungen die Heilserwartung ist, die sie in die Arme des Brandpredigers treibt, ist es für die Älteren die Verehrung für dessen Vater Mohammed Sadik al-Sadr. Einsam wie Imam Hussein in der Schlacht von Kerbela hat dieser in ihren Augen der Übermacht des Despoten Saddam die Stirn geboten und dafür mit dem Leben bezahlt, als er 1999 ermordet wurde. Dieses Schicksal soll dem jungen Sadr nicht widerfahren, sagt der Kunstmaler Abu Milat.

In der Nachbarschaft des Nähmaschinenmechanikers Mohammed Raschid betreibt er ein kleines Atelier. An der Wand hängen Gemälde von folkloristischen Szenen aus dem Zweistromland, eine römische Göttin und Porträts von verschiedenen Stammesscheichs und jungen Frauen ohne Kopftuch. Mit Muktada al-Sadrs Vision eines Gottesstaats hat das wenig zu tun. „Aber wenn er in Not ist, müssen wir ihm beistehen“, sagt der 40-jährige Maler. Es klingt beinahe ein wenig resigniert.

Die Kämpfe haben eine Schneise der Verwüstung in Sadr City hinterlassen. Von der Teerstraße, die zu Mohammeds und Abu Milats Werkstätten führt, ist zum Teil nur noch Schotter übrig. Ausgebrannte Autowracks, Reste von Barrikaden und zerschossene Häuser zeugen von der Heftigkeit der Gefechte. Nur die Vertretung von Muktada al-Sadr scheint das Ganze unbeschadet überstanden zu haben. Mehrfach von den Amerikanern bombardiert, wurde sie in Windeseile wieder aufgebaut.

„Süß wie der Aufbruch in die Verheißung waren die Gefechte in Nadschaf“

Die vielen Trauerbanner lassen ahnen, wie hoch die Zahl der Toten ist – genaue Zahlen gibt es nicht. In den Bergen von Müll, der sich auf den Hauptstraßen türmt, stöbern Ziegen und Schafe nach Futter. An verschiedenen Stellen staut sich das Abwasser zu brackigen Tümpeln. Die Regierung hat den Ort scheinbar aufgegeben, nicht einmal die Polizei lässt sich blicken. „Wir leben hier zwischen zwei Feuern gleichzeitig – dem von Sadr und der Regierung“, sagt Abu Milat. „Den Preis bezahlen am Ende wir.“ Beide Seiten müssten aufeinander zu gehen, verlangt er. Es gibt aber auch andere wie den Parfümverkäufer Hassan Kadhim. „Sadr muss endlich die Waffen niederlegen“, sagt er. „Die Regierung will hier investieren, er muss ihr nur die Chance dazu geben.“

Auch Mohammed Raschid ist die ewigen Kämpfe leid. Obwohl er für die Auflösung aller Milizen ist, scheut er sich davor, sich öffentlich gegen die Mahdi-Armee auszusprechen. Einen Sajjed, einen Nachfahren des Propheten Mohammed, belehrt man als einfacher Bürger nicht. Und es gibt noch einen anderen Grund. „Es sind schließlich unsere Verwandten und Nachbarn, die ihr Leben riskieren.“

Auf einer deutschen Metalltafel aus den 50er-Jahren wirbt eine propere Hausfrau für das neueste Modell einer Singer-Nähmaschine. Müde setzt sich Mohammed Raschid auf einen wackligen Stuhl in seiner kleinen Werkstatt. Aufschwung und Wohlstand wie im Nachkriegsdeutschland, das hatte er sich vor einem Jahr auch für sein Land erhofft. Heute ist Sadr City davon weiter entfernt denn je.

Einen Tag, nachdem die Miliz in Nadschaf die Waffen niederlegte, kam es in Bagdad noch einmal zu schweren Kämpfen. Wieder eine Nacht, die Mohammed schlaflos zubrachte. Seit Sonntag wird zwischen der Regierung, den Amerikanern, Stammesscheichs und Vertretern von al-Sadr verhandelt, bislang erfolglos. Denn der Frieden von Nadschaf und Kufa gilt nur in diesen beiden Städten. Vorläufig wurde für Sadr City nicht mehr als ein kurzer Waffenstillstand erreicht, der aber schon in der Nacht zum Montag gebrochen wurde, 17 Tote waren die Bilanz dieser blutigen Nacht.

Vor einer kleinen Moschee zwei Kilometer von seiner Werkstatt entfernt laden derweil Mahdi-Kämpfer Waffen von einem Kleinlaster. Nacheinander tragen sie Mörsergranaten in das Gotteshaus. Niemand hält sie davon ab.