Das Kopftuch wird eingepackt

Das Geiseldrama hält junge Musliminnen Frankreich davon ab, sich am ersten Schultag zu verschleiern. Einige haben sich als Ersatzgeiseln angeboten

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Für ein paar hunderttausend junge FranzösInnen ist morgen la rentrée. Der erste Schultag nach mehr als zwei Monaten Sommerferien. Und zugleich das In-Kraft-Treten des neuen Gesetzes, das „ostentative“ religiöse Symbole im Unterricht verbietet. Von der Kipa über das Kreuz bis zum Kopftuch.

Bis zum Wochenende sah es so aus, als würde die rentrée trotzdem problemlos verlaufen. Selbst ZweckpessimistInnen im Unterrichtsministerium in Paris erwarteten nicht mehr als 100 halbwüchsige Mädchen im ganzen Land, die es auf einen Kopftuchstreit am Schultor ankommen lassen wollten. Trotz der vorausgegangenen heftigen Kontroversen schien das Thema gegessen. Selbst diejenigen, die am Jahresanfang noch aufgeregt gegen das „Kopftuchverbot“ und die damit angeblich einhergehende „Freiheitsberaubung“ protestiert hatten, rufen seit Monaten dazu auf, „das Gesetz der Republik zu respektieren“. Bloß die den ägyptischen Muslim-Brüdern nahe stehende große französische Dachorganisation „UOIF“ macht noch einen Doppeldiskurs: Während ihre Chefs öffentlich jeden Gesetzesverstoß ablehnten, bieten sie gleichzeitig jungen Kopftuchträgerinnen Rechtschutz an. Für den Fall, dass ihr Streit mit der Schule vor ein Gericht führen sollte.

Die „Islamische Armee“ im Irak hat jeden Versuch von Routine beim Schuljahrsbeginn in Frankreich verhindert. Seit bekannt ist, dass die Organisation (siehe Kasten) die beiden seit dem 20. August vermissten französischen Journalisten Christian Chesnot und Georges Malbrunot in ihrer Gewalt hat und sie sie als Unterpfand benutzt, um die Streichung des „Kopftuchverbots“ in Frankreich zu erzwingen, beherrscht sie die öffentliche Debatte. Sämtliche Institutionen haben die Geiselnahme verurteilt. Und ausnahmslos alle lehnen jedes Zugeständnis an die „Islamische Armee“ ab. Für die französischen Medien – und nicht nur den Radiosender „rfi“, dessen Korrespondent Chesnot ist, und den Figaro, für den Malbrunot arbeitet – ist die Geiselnahme das wichtigste Thema überhaupt. Kein einziges öffentliches Ereignis im Frankreich dieser Tage findet ohne ein Gedenken an „unsere beiden Landsleute im Irak“ statt. Und das am Montagabend von al-Dschasira ausgestrahlte zweite Video mit der Verlängerung des Ultimatums um 24 Stunden hat die Entschlossenheit und die Geschlossenheit der FranzösInnen noch zusätzlich verstärkt.

Als Erstes und auch am entschiedensten haben die SprecherInnen der muslimischen Gemeinden Frankreichs reagiert. Moderate Köpfe, wie der aus Algerien stammende Rektor der Pariser Moschee und zugleich Präsident des Muslimrates, Dalil Boubakeur, haben sie genauso ohne Wenn und Aber verurteilt, wie die konservativen. Am Ende des ersten Treffens, zu dem der französische Innenminister Dominique de Villepin am Sonntagvormittag den Muslimrat zu sich gerufen hatte, sagte eine verschleierte junge Frau aus der UOIF: „Ich will kein Blut auf meinem Kopftuch.“ Anschließend bot sie sich selbst als Ersatzgeisel an.

Inzwischen haben andere junge Frauen ihr Beispiel nachgeahmt. Auf einer Demonstration für die Geiseln, an der sich am Montagabend in Paris 3.000 Leute auf der Place du Trocadéro versammelten, erklärten verschleierte Mädchen aus verschiedenen französischen Regionen ihre Opferbereitschaft. Besonders flehentliche Appelle lassen in diesen Tagen die SprecherInnen der UOIF los. Dieselben Frauen, die sich zu Jahresanfang durch die antifranzösischen Kopftuchdemonstrationen von FundamentalistInnen in Nordafrika und im Nahen Osten gestärkt fühlten, erklären jetzt öffentlich: „Das ist eine rein französische Angelegenheit.“ Andere, wie der fundamentalitische Philosoph Tarek Ramadan, fügen hinzu, Geiselnahmen und Mord seien „nicht muslimisch“.

Der Präsident der UOIF erklärt, was seine Organisation bewegt. „Wir haben noch nie so viel Angst gehabt“, sagt Lhaj Thami Breze. Die Geiselnehmer im Irak benutzen fast wortgleich dieselben Argumente, die die UOIF zum Jahresanfang in der französischen Debatte benutzt hat. Bloß mit einer anderen Konsequenz. Sollte sie ihre Drohung wahrmachen und die beiden französischen Journalisten ermorden, fürchten die Verantwortlichen der muslimischen Gemeinden, Racheakte in Frankreich.

Sorgen wegen der Bedrohung aus dem Irak haben auch französische LehrerInnen, die von morgen an die Einhaltung des neuen Gesetzes durchsetzen müssen. „Ich möchte nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass im Irak Geiseln ermordet werden“, sagt eine. Erziehungsminister François Fillon erklärt, er hoffe, es werde überhaupt zu keinem einzigen Schulausschluss kommen. In jedem Fall werde kein Mädchen, das auf seinem Kopftuch bestehe, in den beiden ersten Wochen des neuen Schuljahres ausgeschlossen, versichert der Minister. Vor einem derart radikalen Schritt sieht das Gesetz längere Vermittlungsgespräche vor. Unter anderem mit muslimischen Religiösen.

Das Geiseldrama schreckt auch manche jungen Mädchen ab, die noch vor wenigen Tagen damit kokettiert haben, am ersten Schultag verschleiert in der Klasse zu erscheinen. Nur die Entschlossensten werden diese Kraftprobe am Anfang des neuen Schuljahres wagen.