Herabgestiegen vom Olymp

„Er soll eine neue Partei gründen. Das wäre gut.“ Könnte Lafontaine also auf seine Stimme rechnen? Der Mann lächelt. „Vielleicht.“

AUS LEIPZIG BETTINA GAUS

Tiefschwarz gekleidete Jugendliche mit schrill rasierten Haarschöpfen tragen eine Zinkbadewanne durch die Straßen von Leipzig. Aufschrift: „Deutschland geht baden“. Ein gutes Motiv für Fotografen und Kameraleute, die sich um den besten Blickwinkel auf die kleine Gruppe balgen. Verständlicherweise. Denn besonders üppig sind Hingucker nicht gesät auf dieser Veranstaltung.

Dabei sind doch alle gekommen, die man aus dem Fernsehen kennt – oder zumindest ihre Brüder und Schwestern im Geiste: die graugesichtigen Männer mit Bierflaschen, die vermutlich 15 Jahre jünger sind, als sie aussehen. Die bieder wirkenden Frauen, deren Gesichter sich hasserfüllt verzerren, wenn sie schreien: „Wir sind das Volk!“ Die finster dreinblickenden Jugendlichen, die ihren Gang lange geübt haben müssen, um ihn dermaßen bedrohlich erscheinen zu lassen. Aber diese Leute kennt man eben schon, sie sind also die Nachricht von gestern.

Und außerdem sind sie nur eine Minderheit in der Menge derer, die sich am Montag in Leipzig zu einer Kundgebung gegen Hartz IV versammelt haben. Natürlich gibt es ein paar PDS-Fahnen und einige Ver.di-Flaggen. Die allermeisten Transparente und Poster sind jedoch erkennbar selbst gebastelt. Es mag manche geben, die den Widerstand für eigene Zwecke nutzen wollen. Bislang und noch immer jedoch scheint er vor allem eines zu sein: unorganisiert. Und dennoch ganz gut informiert.

Von 60.000 Demonstranten sprechen die Veranstalter, von 20.000 die Polizei. Wer näher an der Wahrheit ist, lässt sich aus dem Zentrum des Geschehens heraus schwer schätzen. Fest steht: Die meisten Anwesenden bieten sich weder optisch noch akustisch für dramatische Berichterstattung an. Sie sehen so aus, als ob sie auf dem Weg zum Supermarkt sein könnten. Eignen sich also schlecht für Reporter, die anhand von Bildern der Montagsdemonstrationen gern den Anfang vom Ende der Republik oder doch zumindest der rot-grünen Koalition beweisen möchten.

Auch ist das, was die Leute zu sagen haben, keineswegs so undifferenziert, und schlecht informiert, als dass sich damit das Klischee der naiven, verführten Ostdeutschen bedienen ließe. „Liebe von Populistinnen und Populisten aufgehetzte Mitbürgerinnen und Mitbürger“, sagt die Teilzeitfriseurin Regina Richter auf der Abschlusskundgebung vor der Leipziger Oper, und sie erntet schallendes Gelächter und Applaus. Offenbar weiß sie, wovon sie spricht. Unter anderem nämlich von Mindestlöhnen und von Zumutbarkeitskriterien, und sie kann präzise benennen, was das heißt: Einen – künftig – möglichen Stundenlohn von 3,06 Euro für Friseurinnen und 3,38 Euro für Wachleute in Ostdeutschland. Das ist wenig.

Ihr Publikum wird davon nicht überrascht. Auch der 55-jährige ehemalige Heizungsinstallateur Franaz Zubal weiß beispielsweise recht genau, was ihn erwartet, wenn Hartz IV in Kraft tritt: eine monatliche Einbuße von 140 Euro im Monat. Seit einem Unfall vor neun Jahren, der ihn berufsunfähig werden ließ, hat er von Arbeitslosenhilfe gelebt. Eine Umschulung wurde ihm schon damals nicht genehmigt. „Zu alt.“ Künftig wird er Sozialhilfeempfänger sein. Das erbittert ihn. Slogans ruft er nicht.

Die Sekretärin Marion Albrecht ist seit drei Jahren arbeitslos. Die westdeutsche Firma, für die sie zehn Jahre lang tätig war, hat ihre Filiale in Leipzig geschlossen. Die Mutter einer Studentin befürchtet, durch Hartz IV insgesamt 650 Euro monatlich einzubüßen, unter anderem wegen neuer Bestimmungen hinsichtlich von Wohngeld und Kindergeld. Mag sein, dass sie ihre Zukunft allzu düster sieht. Präzise Informationen hinsichtlich ihres speziellen Falles waren von Organisationen und öffentlichen Einrichtungen, deren Mitarbeiter sich hauptberuflich mit solchen Fragen beschäftigen, auch nach stundenlanger Recherche nicht zu erhalten. Wie soll dann Marion Albrecht genau wissen, was auf sie zukommt?

Die 47-Jährige ist dieses Mal zur Demonstration gegangen, weil sie hören möchte, was Oskar Lafontaine zu sagen hat: der Mann, der einst Finanzminister und Vorsitzender der SPD gewesen ist, ganz plötzlich zurücktrat und seither den Eindruck erweckt, eine Lösung für alle Probleme in der Tasche zu haben. Wenn man ihn nur machen ließe. Marion Albrecht ist skeptisch. Sie versteht die Leute, die keinen „Promi“ als neues Aushängeschild wünschen und die sich deshalb dieses Mal nicht an der Kundgebung beteiligen. Es sei schon richtig, dass hier vor allem Betroffene zu Wort kommen sollten. Andererseits: „Lafontaine hat ja kein Amt mehr.“ Nun sei sie einfach neugierig, was er zu sagen habe.

Und wenn er tatsächlich eine neue Partei gründete – könnte sie sich vorstellen, ihn zu wählen? Marion Albrecht zögert. „Ich weiß nicht, ob eine neue Partei was bringt. Es gibt doch eigentlich schon genug Parteien, und sie decken auch das ganze politische Spektrum ab. Anderereits muss ich ehrlich sagen: Man weiß gar nicht, wen man noch wählen soll. Wenn jetzt alle schreien, Schröder muss weg, dann muss man doch fragen, was denn die Alternative wäre. Mit der CDU würde es noch schlimmer.“ Das sieht Franaz Zubal anders: „Er soll eine neue Partei gründen. Das wäre gut.“ Könnte Lafontaine also auf seine Stimme rechnen? Zubal lächelt. Ein Lächeln, das nichts preisgibt. „Vielleicht.“

Die Nachdenklichkeit in den Reihen der Demonstranten findet keine Entsprechung beim Hauptredner der letzten Montagsdemonstration in Leipzig. Hauptredner? Ja, natürlich. Die Veranstalter haben alle möglichen Tricks benutzt, um diesen Eindruck zu vermeiden. Ganz viele Betroffene ließen sie sprechen, und als Letzter durfte dann (endlich) auch Lafontaine reden. Nicht länger als die anderen. Also ein Gleicher unter ganz vielen Gleichen. Netter Einfall. Aber die Absicht und die Überlegungen der Montagsstrategen wurden allzu deutlich, um überzeugend wirken zu können. Die zahlreichen Medienvertreter aus Berlin kamen schließlich weder überraschend, noch scheinen sie unwillkommen zu sein.

Lafontaine selbst erweckt den Eindruck, unmittelbar vom Olymp herabgestiegen zu sein, als er endlich zu sprechen beginnt. Der Mann scheint keine eigene Biografie zu haben, keine Vergangenheit, kein Leben, nicht einmal ein Konzept. „Wenn oben immer mehr entlastet und unten belastet wird, dann müsst ihr sagen: Wir sind das Volk!“ Sagt ausgerechnet der Mann, der in den Zeiten des Umbruchs allen nationalen Tönen mit prononcierter Distanz gegenüberstand. „Die Trennung in unserem Volk läuft doch nicht zwischen Ost und West, sie läuft zwischen Arm und Reich“, meint der Expolitiker, dessen politische Freunde für ziemlich teures Geld ein Buch oder eine Springer-Zeitung kaufen mussten, wollten sie erfahren, warum er den Vorsitz der sozialdemokratischen Partei hingeschmissen hatte. Kostenfrei zugänglich hat er seine Überlegungen bis heute nicht gemacht.

Von den Reformern, „die jetzt wieder mal die Talkshows bevölkern“, spricht Lafontaine, der sein Geld inzwischen vor allem bei Sabine Christiansen und mit Hilfe der Bild-Zeitung verdient. „Ich habe schon immer Schwierigkeiten gehabt mit dem Begriff ‚Arbeitsmarkt‘, denn es geht hier um Menschen, und Markt und Menschen vertragen sich nicht“, sagt das SPD-Mitglied, das einst Finanzminister eines marktwirtschaftlich organisierten Staates war. Die Senkung des Spitzensteuersatzes nennt er „unverschämt“. Die Behauptung, der Sozialstaat sei in seiner heutigen Form nicht mehr bezahlbar, sei „schlicht falsch“. Wenn man eine Steuer-und Abgabenlast wie in den skandinavischen Ländern hätte, dann gebe es sogar Überschüsse in den öffentlichen Kassen. Und die Behauptung, die deutsche Wirtschaft sei nicht mehr wettbewerbsfähig? „Welch eine Lüge!“

In eindeutigen Worten benennt der ehemalige Spitzenpolitiker das, was er unter Wählerbetrug versteht: dass nämlich nicht schon vor Wahlen deutlich gesagt werde, welche schmerzhaften Maßnahmen hinterher zu erwarten seien. Der Jubel ist darüber ist groß. So geht fast unter, dass auch Lafontaine sich für „Bedüftigkeitsprüfungen“ bei Sozialhilfeempfängern ausspricht. Ohnehin gibt es niemanden, der ihn danach fragt, weshalb er die einst von ihm selbst angeregte Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe heute zu einem „fundamentalen Fehler“ erklärt.

Irgendjemand hat ein Ei auf den ehemaligen SPD-Vorsitzenden geworfen. Ein paar Leute haben „Buh“ geschrien, als er zu reden begann. Was für eine Hilfe für den Volkstribun. Nun lässt sich beim donnernden Schlussapplaus mit Fug und Recht behaupten, Lafontaine habe sein Publikum überzeugt. Als ob das alles so einfach wäre.

Viele Demonstrantinnen und Demonstranten laufen mit einem weißen T-Shirt herum. Vorne steht: „Hartz IV –nicht mit uns.“ Auf der Rückseite steht eine Abkürzung „ADBC.“ Was diese Buchstabenfolge bedeutet, wissen zwei junge Frauen nicht, die das Hemd tragen: „Das weiß wahrscheinlich keiner. Wichtig ist, doch, was vorn draufsteht.“ Sie hätten das Hemd an der Nikolaikirche bekommen und seien mit der Botschaft „ganz einverstanden“.

Die Organisation ADBC – der „Allgemeine Deutsche Bürger Club“ – bietet im Internet ganz fabelhafte Hilfen für Menschen (und Firmen) in Not gegen einen geringen Mitgliedsbeitrag an. Und verfügt offenbar über erhebliche Mittel. Wer die bereitstellt, lässt sich auf die Schnelle nicht herausfinden.

In Leipzig sind viele Leute zu sehen, die diese T-Shirts tragen. Man nimmt von Rattenfängern derzeit offenbar gerne, was diese geben können. Offen bleibt, ob dies die Bereitschaft zu Gegenleistungen einschließt. Vielleicht sollte das irgendjemand mal Oskar Lafontaine erklären. Der sich offenbar als jemand sieht, der in einer großen Tradition steht: „Lasst uns mehr Demokratie wagen. Und lasst uns mehr soziale Demokratie wagen“, schließt er. Ein sehr kleiner Willy Brandt.