„Das Ruhrgebiet hat keine Wahl“

Ralf Siegel vom Institut für Pflegewissenschaft der Uni Witten/Herdecke träumt vom Ruhrgebiet als deutsche Modellregion für moderne Altenpflege. Sein Institut will die Akteure auf dem Pflegemarkt verstärkt beraten

taz: Sie sehen das Ruhrgebiet als Modellregion auf dem Weg zu einer alternden Gesellschaft. Wunsch oder Wirklichkeit?Ralf Siegel: Dass der Alterungsprozess bei den Revierbewohnern der bundesweiten Entwicklung um zehn Jahre vorauseilt, ist bekannt. Wünschenswert wäre es, dass andere Regionen sich eines Tages am Revier ein Beispiel für die moderne Versorgung älterer Menschen nehmen könnten. Ein Szenario, wie das Gesamtproblem zu lösen ist, hat jedoch noch niemand entwickelt.

Viel Zeit bleibt aber nicht.In der Tat hat das Revier keine andere Wahl, als sich schnellstmöglichst mit der Alterung der Gesellschaft auseinanderzusetzen. In den Stadtgebieten nördlich der A 40 liegt der Altersdurchschnitt heute schon bei 55 Jahren. Und dabei muss bedacht werden, dass dort Migrantenkinder und alleinerziehende junge Frauen den Altersdurchschnitt noch drücken. In zehn bis fünfzehn Jahren werden im Revier bis zu zwei Millionen alte Menschen leben. Das bedeutet ein enormes logistisches und finanzielles Problem.

Wie kann Ihr Institut dazu beitragen, aus dem Ruhrgebiet eine Modellregion zu machen?

Wir forschen seit Jahren an maßgeschneiderten Lösungen und bilden akademisches Personal aus. In Zukunft wollen wir uns zu einem Dienstleister für die Region Ruhr entwickeln, der Modellvorhaben und Alternativen aufzeigt und erprobt.

Ein Platz im Altersheim ist zu teuer für viele Revierbewohner. Was sind die Alternativen?

Absolventen unseres Studiengangs „Bachelor of Science Nursing“ haben sich selbstständig gemacht und das Projekt „Autonomia“ gegründet, das sich als Gegenmodell zum Altersheim versteht. Demenzkranke wohnen, betreut von fachlich besonders geschulten Pflegerinnen und Pflegern, in Wohngemeinschaften. Die Nachfrage ist riesig. Nicht nur weil die Kosten niedriger sind. Es wird so ein Lebensraum geschaffen, den wir als „normal“ bezeichnen können. Die größte Fehlentwicklung sind die so genannten „Laufstallmodelle“: Schwellenfreie, runde Gebäude, in den Demenzkranke im Kreis laufen und jedwede Orientierung verlieren.Aber solche Einrichtungen sparen Personal.

Richtig. Doch das ist keine Entwicklung, die ich gutheißen kann. Es ist zu hoffen, dass die 1-Euro-Jobs, die im Rahmen von Hartz IV massenhaft eingerichtet werden, die Lage ein wenig verbessern.

Geht es denn nicht mehr ohne 1-Euro-Jobs in der Altenpflege?Es fehlt vor allem an Menschen, die den Senioren mal etwas vorlesen oder mit ihnen einkaufen gehen. Wir wissen natürlich nicht, ob Langzeitarbeitslose, die zu diesen Jobs gezwungen werden, dafür die Richtigen sind. Wir können nur hoffen, dass bei einigen der Wunsch entsteht, in einem Pflegeberuf zu arbeiten. Für leichte Betreuungsaufgaben wollen wir auch mehr Ehrenamtliche gewinnen. Das alles darf aber nicht dazu führen, dass kein Geld für ausgebildetes Personal mehr da ist.

Wie können Senioren alternativ untergebracht werden, die geistig fit sind, aber körperliche Beschwerden haben?In Duisburg hat die Wohnungsgesellschaft „Deutsche Annington“ ein Pflegebüro eingerichtet, das bei altersgerechten Umbaumaßnahmen berät. So können ältere Menschen länger in ihrer gewohnten Umgebung leben.