Freibeuter des Lebens, gestrandet in einem Roman

Schatzsuche, Korsarenherrlichkeit und ein Kompass, der am Nordpol vorbeiweist: Mit solchen Motiven stattet der kanadische Erzähler Nicolas Dickner drei heutige Lebensläufe aus. Sein Roman „Nikolski“ beginnt wie auf einem Reißbrett entworfen – wird dann aber immer rätselhafter

Drei Erzählstränge. Drei Protagonisten. Sie kommen aus mehr oder weniger zerrütteten Elternhäusern. Dem namenlosen Ich-Erzähler stirbt die Mutter weg, an seinen Vater erinnert ihn nur ein Kinderkompass mit einer bemerkenswerten magnetischen Anomalie; er zeigt nicht zum Nordpol, sondern nach Nikolski, einer kleinen Aleuten-Insel, dem letzten Aufenthaltsort seines Vaters. Noah lebt allein mit seiner Mutter, einer ausgestoßenen Chipewyan-Indianerin, on the road, durchquert Kanada „von den Rockies bis nach Ontario“. Und Joyce wächst bei ihrem Vater in einem trostlosen Kaff an der Küste Quebecs auf, einsam, vernachlässigt und verwahrlost.

Alle drei flüchten sie etwa zur gleichen Zeit, 1989, nach Montreal, um ein neues Leben zu beginnen. Sie begegnen sich flüchtig, lernen sich aber nicht wirklich kennen – dabei sind sie blutsverwandt. Jonas Doucet, der Nachfahre eines alten Piratengeschlechts und seiner Abstammung gemäß ein rastloser Seemann und Springinsfeld, ist der Vater der beiden jungen Männer und Joyce’ Onkel.

Nicht nur die zufälligen – und zwischen dem Erzähler und Joyce dann auch irgendwann nicht mehr ganz so zufälligen – Begegnungen sorgen dafür, dass sich die einzelnen Plotfäden verbinden. Der Autor dieses kanadischen Debütromans, Nicolas Dickner, nutzt darüber hinaus jede sich bietende Gelegenheit, um seine drei Lebensgeschichten im Hintergrund mit maritimen, nautischen und Seeräuber-Motiven auszustaffieren. Ständig gibt es Hochwasser. Müllwagen imitieren das Geräusch der Brandung. Und das Wohnwagengespann von Noahs Mutter schaukelt sich träge durch die Prärie wie ein „Ozeanriese“. Joyce segelt nächtens als „Informationspiratin“ in den Datenweltmeeren umher – und tagsüber arbeitet sie in einem Fischladen, selbstredend! Spätestens wenn Dickner ihren Computertisch in backbord und steuerbord unterteilt, hat man es verstanden.

Aber noch etwas verbindet die drei Personen und Plots. Ein merkwürdiges Buch geht, weil der Autor den Zufall hart an die Kandare nimmt, durch alle Hände. Das „dreiköpfige Buch“, so nennt es der als Antiquar arbeitende Erzähler, weil es Fragmente dreier Bücher scheinbar wahllos zusammengebunden hat. Ein Werk über Schatzsucher, eine historische Abhandlung über Seeräuber und die Biografie eines Schiffbrüchigen. Wie immer, wenn Bücher in Büchern auftauchen, ist auch dieses poetisch instrumentalisiert, nämlich als leitmotivisches Analogon zum großen Ganzen: Noah studiert Archäologie, er ist der Schatzsucher; Joyce übernimmt die Piraten-Rolle, und der Ich-Erzähler ist ein in der Literatur gestrandeter Robinson, der sich am Ende wieder ins Leben, bekanntlich ein stürmisches Meer, hinaustraut, weil er sich in die freibeuterische Cousine verliebt hat und ihr nachreist. Wohin? Natürlich in die Karibik, den Schauplatz klassischer Korsarenherrlichkeit.

„Nikolski“ stellt seine bauliche Raffinesse so deutlich aus und lässt sich dafür so willfährig in die zugrundeliegende Konstruktionszeichnung blicken, dass man es diesem flotten Romandampfer eine Zeitlang beinahe wünscht, er möge am nächstbesten Eisberg zerschellen. Im Ernst, es ist geradezu erstaunlich, dass dieses Buch funktioniert; aber das tut es. Das liegt an den sprachbildnerischen Fähigkeiten Dickners, er kann einprägsame Topografien und plastische Interieurs zeichnen, seine Protagonisten stehen voll im Saft – vor allem hätte man jeden einzelnen der drei gern zum Freund. Hinzu kommt, dass das Buch dann eben doch nicht in der peniblen Reißbrettzeichnung aufgeht.

Als Noah für eine Weile auf die Kleine-Antillen-Insel Margarita emigriert, wohin er seiner Liebe Arizna und seinem Sohn Simón folgt, begegnet er einem kauzigen alten Ahnenforscher, der meint, „dass man die Zukunft der Insel voraussagen kann, wenn man alle Familien von Margarita in einen einzigen Stammbaum zusammenfasst“. Offenbar sollte auch „Nikolski“ diesem genealogischen Prinzip gehorchen – und die Figuren verhalten sich auch zunächst ihrem Stammbaum gemäß. Aber dann sieht es fast so aus, als hätte ein narrativer Furor den Autor mitgerissen, so als würden die Protagonisten im Laufe ihrer literarischen Existenz dann doch so ein Eigenleben entwickeln und sich nicht so verhalten, wie sie sollen. Joyce zweifelt an ihrer Freibeuter-Existenz und setzt sich ab in die Karibik. Noah hingegen kommt von dort wieder zurück nach Montreal, die Schatzsucherei hat er schon vorher drangegeben, um bei seinem Sohn zu sein. Und das sieht nun einem Nachkommen Jonas Doucets ganz und gar nicht ähnlich.

Überdies weitet Dickner das Themenspektrum seines Romans zum Rande hin aus. Er erzählt bittere Kolonialgeschichten, reflektiert über die Bewahrung von Stammesidentitäten während der Fremdherrschaft, referiert ethnologische und kulturanthropologische Befunde über Nomadentum, Sesshaftigkeit und über den Müll als Produkt der Sesshaftwerdung. Man bringt das alles irgendwann nicht mehr zusammen. Mit fortschreitender Lektüre wird dieser zunächst scheinbar geheimnislose Klarsichtfolienroman immer rätselhafter, und das ist vielleicht nicht das Schlechteste, was man von einem Buch sagen kann. FRANK SCHÄFER

Fotohinweis:

Nicolas Dickner: „Nikolski“. Aus dem Französischen von Andreas Jandl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 2009, 301 Seiten, 19,90 Euro