Vom Mitstreiter Mahathirs zum Reformer

Der ehemalige Vizeregierungschef Malaysias, Anwar Ibrahim, wurde gestern aus dem Gefängnis entlassen

„Gott sei Dank, nach sechs Jahren bin ich nun frei!“ Anwar Ibrahim, Malaysias früherer Vizeregierungschef, machte seiner Erleichterung Luft, nachdem das Oberste Gericht in Malaysia ihn gestern auf freien Fuß setzten ließ. Die Richter hoben damit eine Verurteilung wegen Homosexualität auf. Das Urteil, so der Vorsitzende Richter Abdul Hamid Mohammed, sei aufgrund einer unzuverlässigen Zeugenaussage fehlerhaft gewesen.

Gesundheitlich angeschlagen, aber äußerlich gelassen hatte der im Rollstuhl sitzende Anwar den Urteilsspruch erwartet. Rührung überkam den 57-Jährigen erst, als jubelnde Anhänger ihn begrüßten. Viele hielten Schilder in die Höhe, mit Aufschriften wie „Lang lebe Anwar“ und „Verhaftet Mahathir“. Seine Frau Wan Azizah Ismail, mit der er sechs Kinder hat, nannte den Gerichtsentscheid der ansonsten regierungstreuen Justiz einen „Heilungsprozess für das Land“.

Am 2. September 1998 war der charismatische Politiker vom damaligen Premier Mahathir Mohammed aus dem Amt gejagt worden. Fünf Jahre lang war Anwar Ibrahim stellvertretender Regierungschef gewesen und galt als dessen potenzieller Nachfolger. Der Bruch zwischen Premier und Vize hatte sich vor allem an der Frage entzündet, wie Malaysia auf die Folgen der Asienkrise reagieren sollte. Im Gegensatz zu Mahathir hatte Anwar, der zugleich Finanzminister war, sich für die rigorosen Sparauflagen des Internationalen Währungsfonds ausgesprochen. Verschärft wurde der politische Zwist offensichtlich auch dadurch, dass Anwars Anhänger innerhalb der regierenden UMNO (United Malays National Organisation) immer unverhohlener auf einen Wechsel an der Regierungsspitze drängten.

Nach seinem Rauswurf hatte sich der redegewandte Anwar an die Spitze der Reformbewegung gesetzt und öffentlich die Führung Mahathirs und die Vetternwirtschaft im Lande angeprangert. Allerdings musste er sich selbst auch den Vorwurf eines ambivalenten Politikstils gefallen lassen. Schließlich hatte er Mahathir jahrelang unterstützt und war somit Teil des Feudalsystems im Vielvölkerstaat Malaysia. Die öffentliche Kritik dürfte der machtbewusste Mahathir seinem Exvize nicht verziehen haben.

Anwar wurde kurz danach verhaftet, in Polizeigewahrsam misshandelt und am Rücken verletzt. In Malaysia kam es daraufhin trotz repressiver Sicherheits-Gesetze zu Massenprotesten. Für Anwar selbst folgten persönliche Torturen und schmutzige Prozesse. Mehrere seiner Berufungen waren abgelehnt worden, unter anderem ein Ersuchen im Januar 2004. Beobachter hatten gemutmaßt, er müsse deshalb in Haft bleiben, weil die Regierung unter dem neuen Premier Abdullah Badawi Anwars Popularität angesichts der März-Wahlen gefürchtet habe. Mahathir-Nachfolger Abdullah aber konnte seine Macht inzwischen festigen. Ihm schreibt auch Anwar selbst seine Freilassung zu. Jetzt will er sich in Deutschland medizinisch behandeln lassen. NICOLA GLASS