Wer zuerst stirbt

Familienfeste waren eine Katastrophe. Immer. 66 Jahre lang. Seit Helmut und Margarete geheiratet hatten, waren es nicht die üblichen kleinen Streitigkeiten zwischen Verschwägerten, die die Geburtstage überschatteten. Zwischen Margarete und Cora herrschte Krieg. Zu einem Waffenstillstand kam es erst vor drei Monaten, als Tante Margarete starb.

Aber hübsch der Reihe nach: Helmut und Cora waren Geschwister, Cora drei Jahre älter als Helmut. Sie mochten sich, wie sich Geschwister eben mögen. Cora soll in jungen Jahren oft darüber gemosert haben, dass Helmut keine Entscheidungen treffen konnte, dass man ihn immer ein wenig an der Hand nehmen musste. Aber eigentlich hat sie sich wohl gefühlt in ihrer Rolle als beschützende Schwester. Sie hat es genossen.

Der Hass kam in ihr Leben, als Margarete plötzlich auf der Bildfläche auftauchte. Margarete wirkte ein wenig schwächlich. Sie war zu allen nett, sie war zart und hübsch. Sie sah durchaus harmlos aus, sie war es aber nicht. Stur konnte sie sein, unnachgiebig in ihrer Nettigkeit, sie wusste, was sie wollte, und sie bekam es. Auch Helmut, der sich in ihrem fein gesponnenen Netz aus Charme und Hilflosigkeit mit Vergnügen verstrickte. Cora spuckte Gift und Galle, als sie erfuhr, dass sich Helmut verlobt hatte. Charakterlosigkeit, Berechnung und Feigheit warf sie Margarete vor. Sie tobte, sie schrie, sie verlor. Am Tag der Hochzeit, als Cora der frisch Angetrauten gratulieren musste, dachten alle, sie würde ihr vielleicht die Nase abbeißen, statt sie zu küssen. Aber es kam anders. Cora küsste artig, am Abend kotzte sie der Braut aufs Kleid.

Es war ein erfolgloses Unterfangen, für das Helmut sein Leben lang an zwei Fronten kämpfte. Cora und Margarete hassten einander, es sollte sich niemals ändern. Als Helmut seiner Frau eine Perlenkette kaufte, musste er beim Juwelier gleich zwei identische Schmuckstücke bestellen. Eines für Margarete, eines für Cora. Sie hätten sich sonst womöglich vor Eifersucht umgebracht. Die Möglichkeit stand immer im Raum. Als Margarete ihr erstes Baby zur Welt brachte, achtete man tunlichst darauf, das Neugeborene nie mit der rasenden Tante allein zu lassen.

Cora verfasste monatelang anonyme Liebesbriefe an die Verhasste, glaubte, ihren Bruder auf diese Weise von seiner Frau trennen zu können. Die Sache flog auf, als Margarete ihrer Schwägerin auflauerte und sie auf frischer Tat ertappte. Noch auf dem Weg zum Briefkasten überwältigte Margarete die Feindin, fesselte sie mit Nähgarn, das schmerzhaft in ihre Handgelenke geschnitten haben muss, und lieferte die Geständige ihrem Gatten aus. Helmut wurde der offene Hass zwischen den beiden Frauen, die ihm am wichtigsten waren im Leben, zu anstrengend. Er starb mit 76 an Herzversagen. Danach hat Cora mindestens einmal versucht, die ungeliebte Schwägerin aus der Welt zu schaffen. Anlässlich ihres 80. Geburtstages hatte sie zum Pilzessen geladen und der Witwe ein wenig Knollenblätterpilz unter die Champignons gemischt. Margarete war vorsichtig genug und aß nur Semmelkloß.

Diesen Anschlag hat sie ihr vermasselt, überlebt hat sie die Gegnerin trotzdem nicht. Margarete starb vor drei Monaten eines natürlichen Todes. Zumindest nehmen wir das an. Sie war 91 Jahre alt und von wenig robuster Statur. An Margaretes Beerdigung kostete Cora ihren Triumph sichtlich zufrieden aus. Sie sah blendend aus, widerstandsfähiger denn je. Es war ihr letzter öffentlicher Auftritt. Sie starb, als mit Margaretes Tod die Langeweile in ihr Leben getreten war. CLAUDIA LEHNEN