Grausamkeit des Nettseins

Der Streit entzündete sich an einem Donnerstag, kurz vor Beginn des Schwimmtrainings. Nie zuvor gab es einen offenen Schlagabtausch zwischen meiner Freundin Britta und mir. Stets war sie zu nett, als dass ich ihr hitzig die Meinung hätte sagen können. Bis zu diesem Donnerstag in der Umkleidekabine des Hallenbads.

Immer begann es damit, dass ich sie nach ihrer Meinung fragte. „Britta, wie steht mir der Badeanzug?“, „Britta, denkst du, es war ein Fehler, mich für Medizin einzuschreiben?“, „Britta, sollen wir heute Abend ins Kino oder in eine Kneipe gehen?“ Britta und ich hatten nie eine Meinungsverschiedenheit. Jeder Badeanzug, auch der quietschgelbe mit den schwarzen Ringelstreifen, stand mir, „als wäre er für dich gemacht“. Jede Studienwahl, auch als ich nach Medizin und Theaterwissenschaften schließlich Germanistik wählte, war „genau dein Ding“. Selbst die Entscheidung, wie wir den Abend verbringen sollten, überließ Britta mir. Immer. „Auf was hast du denn mehr Lust?“, fragte sie und lächelte milde.

Wütend machte mich das, richtig aggressiv. Jedes Widerwort hätte mich weniger auf die Palme bringen können als ihre unverbindliche Nettigkeit. Mit der Zeit begann ich damit, sie zu provozieren. Ich ließ Verabredungen platzen, ich lieh mir Geld und vergaß absichtlich, es zurückzugeben. Ich sagte ihr, dass sie um die Hüften zugenommen hatte. Ich bezeichnete ihre neue Haarfarbe, ein dezentes Herbstrot, als vulgär. Ich versaute ihre schicke neue Sporttasche, indem ich mein Haarshampoo hineinkippte. Ich habe mich nie dafür entschuldigt.

Britta lächelte weiter. Milde. Schwachsinnig. Ich krallte meine Fingernägel in das Schaumstoffschwimmbrett, ich atmete hörbar, ich fühlte mich wie ein Luftballon, den man immer weiter aufpumpt, obwohl die zulässige Füllmenge schon längst überschritten ist. Manchmal ging ich einfach grußlos. Dann tat es mir Leid. Ich wollte sie nicht verletzen, sie sollte nicht beleidigt sein. Doch Britta war nie beleidigt. Sie war unerreichbar, in ihrer Nettigkeit war sie unverwundbar. Sie war nachgiebig, tolerant, sie hat nie auf etwas beharrt. Ich hatte das faszinierend uneigennützig gefunden. Zunächst.

Am Ende ging es mir auf die Nerven. So sehr, dass ich irgendwann Ausreden erfand und donnerstags das Hallenbad mied. Es erleichterte mich nur ein wenig. Langweilige Donnerstage waren das, so alleine zu Hause. Ohne Hallenbad, ohne Britta.

Nach zwei Monaten gab ich schließlich auf. Ich packte meine Tasche und radelte zum Schwimmbad. Britta war schon da. Sie war ein wenig rot im Gesicht, am Hals hatte sie Flecken. Ich sagte „Hallo“, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte sagen sollen. Da fing sie plötzlich an. Meine Unzuverlässigkeit, die kleinen täglichen Gemeinheiten, die giftigen Bemerkungen. Sie hätte all das satt. Meine Selbstgefälligkeit, sie finde das zum Kotzen. Sie beklagte sich, sie wurde laut, am Ende brüllte sie. Erst war ich verwirrt, als Britta mit zusammengekniffenen Augen und hochrotem Kopf vor mir stand und hörbar einatmete. Ich fing an, sie anzumaulen, ihr endlich einmal die Meinung zu sagen. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und ihren rechten Fuß weiter vorne als den linken. Gleich wird sie mir ins Gesicht springen, dachte ich. Dann musste ich plötzlich lachen. Ich konnte nicht mehr aufhören. Tränen traten in meine Augen, ich krümmte mich. Britta motzte weiter, sie hat unseren Streit erst zwei Tage später lustig gefunden. Heute ist Britta manchmal unausstehlich. Ich rechne ihr das hoch an. CLAUDIA LEHNEN