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Feindschaft pflegen

Einander hassen wie die Pest: Das ist die höchste Form der Animosität. Aber sollte man sie per Konsens mildern? Oder mit ihr auf das Glühendste leben?

von MICHAEL RUTSCHKY

Wer mit Geschwistern aufwächst, lernt es schon früher, R. machte ja erst die Volksschule damit bekannt. Sie traten als Paar auf und trugen schöne Namen, als kämen sie aus einem Roman, Raimund Schenk und Justus Kratt, und R. kam es so vor, typischerweise, dass sie ihm die Feindschaft antrugen statt er ihnen. Vom ersten Schultag an hassten sie ihn (er sie) und fanden immer wieder Gelegenheiten für verbale und körperliche Kämpfe.

Ein Sozialberater würde die Sache so aufdröseln. R. war kein Einheimischer; der Krieg verschlug seine Eltern in die kleine Stadt, und sie ließen, obwohl sie ihr Leben lang dort blieben, nie einen Zweifel daran, dass sie in Wahrheit Großstädter seien. So lernte R. auch nie den Dialekt; er sprach auch keine anderen – damals fanden sich ja Flüchtlinge allüberall, und man hörte oft das fremde Schlesisch und Ostpreußisch in der kleinen Stadt –, nein, R. sprach Hochdeutsch, und das, so der Sozialberater, klang in Raimund Schenks und Justus Kratts Ohren affig und angeberisch.

R. wollte sich unterscheiden, so dachten seine Feinde und gingen dagegen vor. Seine Position als Einzelkind verleitete ihn dazu, die Mitschüler zu ignorieren und sich sogleich in ein persönliches Verhältnis zur Lehrerin, Fräulein Bromer, zu setzen – was Raimund Schenk und Justus Kratt zu hintertreiben wussten (wobei sie auf die Zustimmung der Mitschüler rechnen durften, die es gleichfalls abscheulich fanden, wie sich R. bei Fräulein Bromer hervortat – so was dürfen nur Mädchen).

Weil der Sozialberater – der seinerzeit noch fehlte im Personal – mit seiner Deutung der andauernden Kämpfe praktische Folgen erzielen wollte, sprach er mit den Kindern. R. empfahl er ein bisschen Zurückhaltung; Raimund Schenk und Justus Kratt ermahnte er, die vielen Flüchtlinge in der Stadt zu respektieren und niemanden wegen seiner Redeweise zu diskriminieren (drastisch spielte er ihnen ihren eigenen Dialekt vor). Endlich reichte er die Deutung an Fräulein Bromer weiter, damit sie im Unterricht die Dynamik stets im Auge behalte.

Wenn wir in die Totale gehen, bekommen wir noch weitere Dimensionen dieser Kämpfe in den Blick. Raimund Schenk stammte aus der Familie, die den Bürgermeister unserer kleinen Stadt stellte (Justus Kratt, ein hübscher dicker Junge, war sein Prätorianer). Die Eltern von R. aber knüpften innige Bande mit der reichsten Familie, Bande, die der kleinen Stadt höchst undurchsichtig vorkamen; manche hielten den kleinen R. für einen illegitimen Sprößling. Weil nach ‘45 das Führungspersonal ausgetauscht werden musste, stellte die SPD den Bürgermeister – was den Wünschen der reichsten Familie, die sich mit der NSDAP gut verstanden hatte, keinesfalls entsprach. Weshalb sie mal den Vater des kleinen R., als Neuankömmling ein unbeschriebenes Blatt, als Bürgermeister ins Spiel brachte …

So kann man solche Kinderkämpfe schon in der Manier analysieren, die sich bei politischen Auseinandersetzungen zwischen Parteien und anderen Gruppierungen bildete. Die Kämpfer scheinen bloß allgemeinere Mächte zu verkörpern, wie sie aufeinander treffen, Stadt und Land, Rechts und Links, Einheimische und Fremde, Vergangenheit und Gegenwart.

Die Analyse macht die Lage überschaubar, und alle Konflikte schauen so aus, als wollten sie sich lösen lassen: Tatsächlich ging irgendwann mal aus der Bürgermeisterwahl der Kandidat der CDU als Sieger hervor. Was die Analyse unterschlägt: die Hitze der Kämpfe. Sie schien weniger deren Ergebnis als ihre Voraussetzung. Die Feindschaft war da, sobald die Kontrahenten einander wahrnahmen; Feindschaft ist seinsmäßig, existenziell, wie der verruchte Rechtsphilosoph Carl Schmitt, der die Unterscheidung von Freund und Feind als Inbegriff des Politischen entwickelte, lehrt. Das entwertet, was Sozialberater deuten und raten, als Eiapopeia.

Wer, wie gesagt, mit Geschwistern aufwächst, weiß intuitiv, wie eine solche seinsmäßige Feindschaft sich anfühlt. Ich brauche nur meinem alten Freund Achim, dem Redakteur, zuzuhören, wenn er über seinen Bruder spricht; und mein alter Freund S. konnte von seinen beiden Söhnen erzählen, wie sie ein einziger Herzenswunsch erfülle: dass der andere weg sei.

Wer sich in Carl Schmitts berühmte Schrift von 1932 vertieft – gegen deren Beweisführung die BRD als Ganzes entworfen scheint –, den erfreut das Konzept einer seinsmäßigen Feindschaft, weil ihm sofort solche Erlebnisse mit Raimund Schenk und Justus Kratt oder Arnulf Baring oder Max Strauß – oder wen Sie möchten – einfallen. Des Weiteren aber enttäuscht Carl Schmitt, weil als Politik in seinem Sinn bloß Krieg und Bürgerkrieg übrig bleiben.

Parlamentarismus und alle anderen Formen geregelter Auseinandersetzung zwischen Parteien hielt er für korrupt und dekadent – gleich gewannen ja auch die Nazis, die ihn interessierten, den latenten Bürgerkrieg der Weimarer Republik und präparierten das Reich für den Weltkrieg, den sie verloren, was uns die Bundesrepublik und ihre Leidenschaft für unendliche Verhandlungen eintrug. Die Feindschaft (inklusive Kriegsdrohung) verlagerte sich in die Systeme, Ost und West; im Inneren sollte es nur noch Gegner geben, die unter Konsenszwang standen.

In den Deutungen der Sozialberater setzte sich die Identitätsphilosophie durch. Es gibt keine Feinde; der Feind ist bloß ein abgespaltener Teil von mir, den ich, indem ich ihn anerkenne, wieder in mich aufnehme. Ussama Bin Laden ist bloß der Doppelgänger von George W. Bush, wie diese doofe, aber bildhübsche indische Nationalistin verkündete, was in unseren Kreisen starken Beifall hervorrief. Dass sie in direkten Austausch treten, um den projizierten Feind wieder in sich aufzulösen und so den Konflikt zu beenden, kann man ausschließen. Also folgen wir Arundhati Roy und erklären sie beide zu ein und demselben Feind.

Und damit dürfen wir uns wieder an der seinsmäßigen Hitze erfreuen, wie sie die Feindschaft erzeugt. So hält es auch Jürgen Habermas, der – nebenbei gesagt – in der Theorie Carl Schmitt endgültig widerlegt hat. Die Freude an der Hitze beobachtete man auch an den Pazifisten. Sie traten durch und durch kriegerisch auf, wenn es um die Kämpfe im Kosovo, in Afghanistan und im Irak ging und sie den einen oder anderen, der sie befürwortete, zum Schweigen zu bringen wünschten.

Überhaupt kommt man, sobald man aufhört, das Konzept der Feindschaft für per se faschistisch zu halten und deshalb zu verwerfen, rasch auf die vielen täglichen Auseinandersetzungen, die ihm folgen. Substanzielle Fragen wie die, ob eine Lehrerin im Unterricht ein Kopftuch tragen darf, gehören ebenso hierher wie die um Hundescheiße auf dem Trottoir. Sterbehilfe; die Grenzen der biotechnologischen Forschungen, wie man sie a priori festlegen könnte – die Schärfe der öffentlichen Auseinandersetzungen ließ an die Zeiten denken, in denen die eine Partei einfach ihre Truppen mobilisierte, um die andere am Weiterreden zu hindern. Da können sie froh sein, pflegt Redakteur Achim die einschlägigen Situationen zu resümieren, dass ich heute meinen Antimateriewerfer zu Hause ließ.

Wie diese Auseinandersetzungen in den Krieg aller gegen alle auszubrechen versäumen, erklärt man normalerweise damit, dass der allgemeine Frieden, den das staatliche Gewaltmonopol garantiert, sie hinterfängt. Und da ist ja was dran. Freilich muss man sich dann immer Sorgen machen, welche Gewalttäter den Frieden schließlich doch gefährden könnten, bissige Kampfhunde oder klonende Mad Scientists, videospielverseuchte Hauptschüler oder Neonazis – oder, um auch diese Seite zu berücksichtigen, der bewaffnete Arm von Attac, der, sofern jung und männlich, der Polizei gern mit blanker Brust entgegentritt wie ein antiker Krieger.

Vielleicht kann man das Verfahren, wie Feindschaft sich zivilisiert, noch anders konzipieren. Als Triebaufschub, der das Ziel, den Feind zu beseitigen, unendlich verzögert. Die immer währenden Verhandlungen aller Parteien, denen die Bundesrepublik ihre zähe Existenz verdankt, fallen ebenso unter das Schema wie die Feuilletonstreits, die um Tod oder Leben, Erlösung oder Untergang zu gehen scheinen. Dass weder das eine noch das andere am Ende dabei herauskommt, dass die Debatten einfach weitergehen oder sich auf ein anderes Thema verlagern, sollte einen in dieser Hinsicht belehren.

Auseinandersetzungen führen nur äußerst selten dazu, dass einer dem anderen zustimmt und so einen Konsens erreicht. Die Meinungs- fließt aus der Religionsfreiheit; wir hegen unsere Überzeugungen wie Glaubensartikel – ich natürlich nicht, aber Sie! –, was sofort deutlich wird, wenn die Gegenmeinung auftritt und nach dem ersten Abtausch klein beizugeben sich weigert.

George W. Bush ist ein guter Präsident, und die USA bilden als Staat ebenso wie Gesellschaft ein Modell, nach dem der Rest des Planeten sich sehnt. Einen besseren Bundeskanzler als Gerhard Schröder konnte die Linke nicht finden. Dem Terror der Palästinenser kann Israel nur mit Gegenterror begegnen. Die wohltätige Wirkung der Kultur wird überschätzt, streicht Kultursubventionen!: Ja, da kommt, wie meine Schwiegermutter zu sagen pflegte, wenn sie einer Talkshow zuschaute, das Blut so schön in Wallung. Da entsteht Feindschaft, und Sie möchten den, der so redet, gleich aus der Gegend, in der Sie wohnen, vertreiben („so was können Sie in der FAZ schreiben!“). Es lohnt sich, Meinungen als Glaubensmächte anzusehen und die Auseinandersetzung um sie als einen Glaubenskrieg, in dem Sieg und Niederlage unendlich verzögert werden. Triebaufschub zivilisiert Feindschaft, nicht Konsenszwang.

Raimund Schenk wurde, soweit ich weiß, Lehrer und geht seiner Pensionierung entgegen, wenn er sie nicht schon erreicht hat. Justus Kratt, sein Prätorianer, schaffte die Volksschule, die Lehre als Einzelhandelskaufmann aber, soweit ich weiß, nicht mehr. Den hübschen dicken Jungen verwandelten die Jahre in einen traurigen Fettsack. Ohne Arbeit oder Familie, soweit ich weiß, blieb er in der kleinen Stadt hängen, die arbeitslose Singles verachtet.

Anfang der Achtziger war R. letztmals da. Im Ratskeller servierte man Beerdigungskaffee, nachdem einer Tante aus jener (einst) reichsten Familie des Städtchens die letzte Ehre erwiesen worden war.

Durch das Fenster des Ratskellers sah R. einen schäbigen Mann betrunken über den Marktplatz torkeln. Als Kind trug ihm seine Körperkraft in Feindschaftsverhältnissen Macht ein – bloß mit Körperkraft kommt man nicht mehr weit.

MICHAEL RUTSCHKY, Jahrgang 1943, schreibt in der taz einmal monatlich ein „Schlagloch“; im taz.mag nimmt er regelmäßig Stellung zu den zwischenmenschlichen Dingen des Lebens

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