Jedermensch auf dem Sockel

Besondere Merkmale? Keine. Stephan Balkenhols Holzfiguren sind merkwürdig abwesende Prototypen des Alltags, zu sehen im Sprengel Museum

aus Hannover JÖRG MEIER

„Suche den Balkenhol“, so erläutert die nette Kassiererin das Ausstellungskonzept. Überall und nirgends im Hannoveraner Sprengel Museum könnten einem die in Holz geschlagenen Skulpturen begegnen. Also: Spürsinn anwerfen, lossuchen und mal der „Princess Diana“ in die Augen schauen, die von Andy Warhol 1982 porträtiert wurde. Da dies das Jahr ist, in dem der Rückriem-Schüler Balkenhol sein Studium beendet und mit der Bildhauerei begonnen hat, folgen wir mal dem scheelen Blick Dianas. Und siehe da: Mitten unter den Pop-Artisten erheben sich aus einem gespaltenen Baumstumpf-Sockel zwei winzige Frauenleiber. Die Maserung des roh behauenen Materials wirkt wie ein hautenger Badeanzug. Risse, Splitter, Kanten, Späne, Verwundungen verweisen auf den Werkprozess, geben dem Badeanzug eine Art modernes Knitterdesign und stellen die einzige Expressivität dar, die Stephan Balkenhol seinen Figuren gestattet. Die Heftigkeit ihres Entstehens kontrastiert die gelassene Statuarik.

Einst fügte der Künstler noch individuelle Züge hinzu, ließ die Figuren schäbiger, prolliger, unförmiger, nicht so uniformiert wie heute wirken. Sie durften auch mal Auto fahren, Piano spielen oder sich als Torso in klassischer Pose räkeln. Seit Jahren unterscheiden sich die merkwürdig abwesenden Figuren nun nur noch durch Frisuren sowie im grazilen Spiel der so natürlichen wie skulpturalen Haltungen. Da sind die weiß behemdeten, schwarz behosten Kerle mit den Händen an der Hosennaht oder in der -tasche. Sonstige Merkmale: keine.

Kontakt zu den Figuren aufzunehmen, ist unmöglich. Man kann um sie herumwandern, sich hinknien, auf Zehenspitzen stellen – es gibt keine Position, in der man angeschaut wird. Mit gestrengem Ernst schweifen die weit geöffneten Augen stets ins Leere, eingebettet in ein stoisches Antlitz. Als irgendwie archetypische Prototypen drücken die Skulpturen nichts aus, verweisen auf keinen Sinn und scheinen vergeblich auf ihre Bedeutung zu warten. Sie wirken wie Durchschnittstypen, die alles hinter sich haben – und denen keine Besonderheit mehr zu entlocken ist.

Vielleicht ist diese Kunst ein Sinnbild der Zunft, die nach dem Siegeszug der Abstraktion nach neuer Figuration verlangte. Während die ersten Balkenhols 1983 noch für 8.000 Mark zu haben waren, geht heutzutage eine Plastik bei Christies in New York schon mal für 115.000 Euro weg. Überhaupt taucht der Schnitz-Professor immer häufiger in Kunstmarkt-Artikeln denn in Ausstellungsbesprechungen auf. Was die große Schau in Hannover ändern soll.

Die ins Riesige gestreckten oder ins Niedliche verkleinerten Gestalten, aber auch die Relief-Porträts, überlebensgroße Passbilder in Holz, heben Jedermenschen auf den Sockel, distanziert, neutral, lakonisch. Es ist der entzauberte Naturalismus, der im Lapidaren keine Überzeugungskraft gewinnt, sich aber auch weigert, Zeichen oder Symbol für etwas zu sein. Und sich als Leerstelle dem Dialog mit der Sprengel-Sammlung verweigert. Es ist nicht schlüssig nachzuvollziehen, warum beispielsweise die Büste „Kopfsäule“ neben Christian Rohlfs „Kohlköpfe“ (1903) platziert wurde und wieso der „Kuhkopf“ ein Calder-Mobile anzuglotzen hat.

Interessant allerdings zu sehen, was Balkenhol noch so alles kann. Mit Blattgold oder -silber belegte, vielfarbig gefasste Reliefs von Stadtansichten sind zu sehen: Zahnarztpraxen-Kunst vom Feinsten. Putzig das geschnitzte Zoo-Getier, ideal für den Wohnzimmerschrank. Und aufschlussreich, wie der Künstler mit Bronze- und Zement-Skulpturen mit Oberflächenstrukturen experimentiert. Oder an sechs Ebenholzblöcken zeigt, dass er sich im Spannungsfeld von Volumen, Form und Material auch mal in abstraktem Expressionismus vorwagt.

Bei den spontan hingeworfenen Zeichnungen machen die Illustrationen Spaß: wie sich ein Balkenhol-Männlein, auf hauchdünnes Ahornholz gestrichelt, an einen Kirchturm klammert, während es von emphatischen Texten aus der atheistischen Verzweiflungsschmiede des E. M. Cioran umschwirrt wird. Skurril die Balkenhol‘schen Inspirations-Spielsachen: Tinnef und Tüdel, den zu kaufen man den eigenen Kindern immer verbietet.

Enttäuschend allerdings ist das erstmals umfassend ausgestellte fotografische Werk des Künstlers. Straßenszenen und bröselnde Architektur aus dem West-Berlin der Siebziger, Schnappschüsse von Reisen und aus Museen, lediglich edle Abzüge beiläufiger Knipserei. Da hat Balkenhol ganz lapidar gesucht – und nichts gefunden.

bis 23. November; dienstags 10 - 20 Uhr, mittwochs bis sonntags 10 - 18 Uhr