Über Berlin nach Athen

Unter den 126 Rollstuhlfahrern gilt sie als Favoritin: Chantal Petitclerc setzt beim Berlin Marathon auf den Sprint. Sie hat auf einer Formel-1-Strecke trainiert – und erreicht bis zu 30 Kilometer in der Stunde. Ihr Ziel: die Paralympics 2004 in Athen

von KATHARINA SCHNURR

Kraftvoll treibt Chantal Petitclerc ihren Rennrollstuhl nach vorne. Zunächst noch langsam, doch schon nach wenigen Sekunden hat sie ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht: Mit 30 Stundenkilometern fliegt sie förmlich über den Asphalt. Die 33-jährige Frankokanadierin rollt sich wenige Tage vor ihrem Marathonstart schon einmal für ihr großes Ziel ein: den 30. Berlin Marathon für Rollstuhlfahrer für sich zu entscheiden. Die Athletin ist in Berlin zum ersten Mal am Start. Dabei ist die Hauptstadt für Petitclerc ein gutes Pflaster: 1990 gewann die damals 21-Jährige hier ihren ersten Weltmeistertitel über die 400 Meter-Strecke.

„Die Strecke ist vom Profil her ideal, um eine gute Zeit zu fahren.“ Es ist flach in der Hauptstadt, kaum Steigungen, und Petitclerc glaubt, unter ihrer Zeitvorgabe von 1 Stunde 55 Minuten bleiben zu können. Auch wenn die Konkurrenz – insgesamt starten 126 RollstuhlfahrerInnen – stark ist. „Ich vertraue auf meine Sprintqualitäten.“ Und die besitzt sie: Ihre elf paralympischen Medaillen gewann die Sportlerin allesamt auf Kurzstrecken.

Seit ihrem ersten Marathon 1990 startet Chantal Petitclerc in regelmäßigen Abständen auf der 42,195 Kilometer langen Distanz. Bei Läufern wäre die schnelle Umstellung von Sprint auf Langstrecke undenkbar, im Rollstuhl gelten andere Regeln: „Bei uns Rollstuhlfahrern ist das mit der Spezialisierung nicht so eng zu sehen, wir können auf allen Strecken schnell sein“, sagt Petitclerc. Die Fahrtechnik gleicht sich, die Rennrollstühle sind identisch, entsprechend sei der Start auf Kurz- und Langstrecken in der Branche durchaus üblich.

Für die heute muskulöse Frau kam der Einstieg in den Profisport unerwartet. Nach einem schweren Unfall auf einem Bauernhof, bei dem eine umstürzende Tür die damals 13-Jährige schwer verletzte, dachte sie lange Zeit nicht an große sportliche Taten. „Es war natürlich eine völlig neue Situation für mich und meine Umwelt“, erinnert sie sich. Nach zwei Monaten im Krankenhaus und drei weiteren Monaten in der Reha-Klinik kam die niederschmetternde Diagnose: Lähmung ab dem Lendenwirbelbereich. „Damals“, sagt Petitclerc, „war mein weiterer Lebensweg noch nicht vorgegeben. Das ganze Leben stand mir quasi dennoch – trotz Unfall – offen.“ Sätze, die viel über Petitclerc erzählen.

Nach einigen Jahren ohne Sport, begann sie sich in der Folgezeit durch Schwimmen in Form zu bringen, allerdings nur „für sich selbst“ und „um nicht ganz Einzurosten“. 1988 dann der Wechsel in den Rennrollstuhl. „Ich wollte schon immer mal eine leichtathletische Disziplin ausprobieren, da bin ich halt am Rollstuhlfahren hängen geblieben.“ Der Erfolg gibt ihr heute Recht.

Spätestens seit 1996 ist Chantal Petitclerc aus der Rennrollstuhlszene nicht mehr wegzudenken. Damals stellte sie mit 1:50,62 Minuten den bis heute bestehenden Weltrekord über die 800 Meter auf.

Um auch auf der Marathonstrecke in Berlin erfolgreich zu sein, bereitete sich die 33-Jährige auf dem Formel-1-Ring in Montreal vor – durch den glatten Straßenbelag bietet der Rundkurs für Rollstuhlfahrer ideale Trainingsbedingungen. Natürlich sind Berlins Straßen nicht mit einer solchen Strecke vergleichbar. „Der einen oder anderen Spurrille werde ich morgen wohl ausweichen müssen.“

Gemeinsam mit ihrem Trainer Peter Eriksson bereitete sie sich sehr konzentriert und diszipliniert auf den Start in der Hauptstadt vor. Zehn Trainingseinheiten die Woche jeweils zwei bis drei Stunden – ein Trainingspensum, mit dem sie ihren Marathon laufenden Kollegen in nichts nachsteht. Neben den täglich gefahrenen dreißig Kilometern quälte sich die Profisportlerin stundenlang im Kraftraum. Der Berlin Marathon soll nur ein erster Schritt zum großen Ziel sein: den paralympischen Spiele in Athen 2004.

Das richtige Material spielt bei den Rollstuhlathleten eine entscheidende Rolle. Nur acht Kilogramm schwer ist der 6.000 Euro teure, aus Aluminium angefertigte Rennrollstuhl. Jedes Jahr wird in Florida ein neues Modell eigens für Petitclerc gebaut. Um ihr blaues Gefährt sicher durch Berlins Straßen manövrieren zu können, reicht das Lenken mit Hilfe von Gewichtsverlagerung schon lange nicht mehr aus – Standard ist eine Lenkvorrichtung inklusive Bremse. Dass das Material immer den neuesten Anforderungen entspricht, dafür sorgt ihr Hauptsponsor, ein kanadischer Aluminiumhersteller.

Die in Montreal lebende Athletin beweist auch außerhalb der Rennstrecke durchaus Talent. Für den kanadischen TV- und Radiosender SRC ist sie bereits seit längerem als Moderatorin tätig. Auch wenn außerhalb des Sports somit eine Karriere winkt: Petitclerc denkt noch nicht ans Aufhören, es bleibt das große Ziel: „Bis Athen 2004 fahre ich auf alle Fälle – danach entscheide ich von Jahr zu Jahr.“