Im Land der langen Wege

Drei Wochen am „Ende der Welt“: Neun vom Arbeitsamt als „lernbehindert“ eingestufte Tischlerlehrlinge aus Hamburg sanieren in Estland ein ehemaliges sowjetisches Pionierlager

von Alexandra Frank

Das „Ende der Welt“ ist grün. Kiefern, Birken, Eichen, ein paar unbewohnte Blockhütten. Keine Autos, keine Busse, keine U-Bahn wie daheim in Hamburg. „Wenn man Ruhe und Natur sucht, ist man in Estland genau richtig“, sagt Michael*. „Aber Ruhe und Natur brauche ich erst dann, wenn ich in Rente gehe.“

Das allerdings ist noch ein Weilchen hin, denn Michael ist gerade mal zwanzig Jahre alt und in der Ausbildung. Aus eigenem Antrieb wäre er nicht ins Baltikum gereist, aber er ist nicht zum Vergnügen hier. Er und seine acht Mitschüler aus der Berufsschulklasse arbeiten. Genauer gesagt, sie sanieren ein Haus. Mitten im Wald. In Südestland. „Am Ende der Welt“ – wie Michael sagt.

Die neun jungen Hamburger sind Ausnahme-Azubis. Zwei Drittel von ihnen haben keinen Hauptschulabschluss, alle wurden vom Arbeitsamt als „lernbehindert“ eingestuft und haben deshalb Anspruch auf besondere Förderung. Am Berufsbildungswerk (bbw) und der Staatlichen Berufsschule Eidelstedt (G12) werden sie derzeit zu Tischlern ausgebildet. Dass sie in ihrem dritten Lehrjahr an einem eigenen Projekt im Ausland arbeiten würden, hätte noch vor einem Jahr keiner der Berufsschüler gedacht. Schließlich wussten die meisten nicht einmal, wo Estland liegt. „Weit weg“, mutmaßte damals einer. „Zwei Stunden wird man bestimmt fahren müssen.“

Grundsanierung für freie Kost und Logis

Tatsächlich waren es gute sechs Stunden mit Flugzeug und Bus zum Luunja Lastelaager, einem Kinderferienlager, das zehn Kilometer östlich von Estlands zweigrößter Stadt Tartu liegt. Die drei Eigentümer, die das ehemalige sowjetische Pionierlager im Zuge der Landwirtschaftsreform 1992 vom estnischen Staat gekauft haben, versuchen seit zehn Jahren, die maroden Häuser zu sanieren, um ein privatwirtschaftliches Ferienlager aufzubauen. Das Geld dafür ist knapp, alles, was sie bieten können, sind freie Kost und Logis.

Also saniert die Hamburger Gruppe ein Haus. Ob das in drei Wochen zu schaffen ist? Sicher, meint Michael und hebelt mit dem Kuhfuß ein Brett von der Wand. Sofort rieseln ihm Sägespäne entgegen, die sich schnell zu einem kniehohen Haufen ansammeln. Vor fünfzig Jahren, als das Haus gebaut wurde, wurden Sägespäne zur Dämmung benutzt, jetzt sollen sie nach europäischem Standard durch Steinwolle ersetzt werden.

Die Arbeit geht flott voran. Ein Brett nach dem anderen fliegt auf den stetig wachsenden Altholzstapel. Daneben steht Mike* an der Kreissäge und schneidet dicke Balken zurecht, die später das Dach stützen sollen. Konzentration ist wichtig, nur so können Unfälle vermieden werden. Hier im Wald gibt es keinen Arzt.

Doch sobald Mike in den Pausen oder nach Feierabend die Baustelle verlässt, sind seine Gedanken ganz woanders. Liebevoll umklammert er dann sein Handy und lauscht dem Klingeln. Einmal, zweimal, zehnmal, zwanzigmal. Dann tippt er eine Nummer ein, schmiegt das Mobiltelefon ans Ohr und zählt die Freizeichen. Binnen kürzester Zeit hatte er sein Telefonguthaben aufgebraucht, jetzt hat er mit seiner Freundin Mandy, die in Hamburg zurückgeblieben ist, einen speziellen Klingelcode entwickelt. Jedes Klingeln heißt „Ich liebe dich“; bereits am zweiten Tag hatte Mike auf der Baustelle Handyverbot.

Drei Tage vor Reisebeginn wollte der 20-Jährige einen Rückzieher machen. Estland sei zu weit weg, zu fremd und außerdem könnte sich währenddessen ein anderer Mann an Mandy ranmachen. Solche Bedenken sind Annette Steinmeyer, die mit ihrem Kollegen, Tischlermeister Dieter Heider, die Auszubildenden begleitet, nicht neu. Gerade Schüler mit Lernschwierigkeiten wünschten sich in besonderem Maße Überschaubarkeit, klare Strukturen und ein bekanntes Umfeld, stünden neuen Situationen skeptisch und ängstlich gegenüber, weiß die Berufsschullehrerin. Das mache auch die Bewerbung um einen Arbeitsplatz schwierig, wo Mobilität und Flexibilität gefordert seien.

Die Idee zum Estland-Projekt, das vom Europäischen Mobilitätsprogramm Leonardo da Vinci finanziell unterstützt und vom Hamburger Verein Arbeit und Leben DGB/VHS organisiert wird, sei vor einem Jahr entstanden, erzählt Steinmeyer. Damals hatten baltische BerufsschullehrerInnen die G12 besucht, um sich über die duale Ausbildung in Deutschland in Betrieben und Berufsschulen zu informieren. Zwischen den HamburgerInnen und den KollegInnen des Berufsschulzentrums Tartu wurde schließlich ein Besuchsprogramm vereinbart. Für ihre Auszubildenden sei dies, so Steinmeyer, eine Chance, „behütet fremde Welten kennen zu lernen“.

„Es ist trotzdem cool, hier arbeiten zu können“

So ist nach einigem Zureden letztendlich auch Mike mitgekommen. Für ihn ist Estland, das gerade mal so groß ist wie Niedersachsen, das „Land der langen Wege“. „Aber es ist trotzdem cool, hier arbeiten zu können“, sagt er. Und effektiv dazu: Die niedergerissene Wand ist nach anderthalb Wochen durch eine neue ersetzt, mehr und mehr ähnelt das Gebäude einem typischen skandinavischen Holzhaus.

Während auf der Südseite noch gesägt und vermessen wird, nimmt Ingo* an der gegenüberliegenden Wand bereits den ersten Anstrich vor. Grellorange soll das Haus werden. „Hässlich“, kommentiert Ingo. Er hätte ein „hanseatisches Blau“ gewählt, aber Reet Rannasaar, eine der EigentümerInnen, wollte eine knallige Farbe. Im Haus sollen künftig sechs- bis achtjährige Kinder beherbergt werden. Die brauchten ein auffälliges Haus, um sich orientieren zu können.

Chance, Ungewohntes meistern zu lernen

Um sich mit Rannasaar, die nur estnisch spricht, verständigen zu können, reichen Ingos Sprachkenntnisse nicht. Aber einige Wörter hat er sich in den knapp zwei Wochen, die er jetzt hier ist, schon angeeignet. Danke, bitte, guten Tag kommen ihm wie selbstverständlich von den Lippen, und fährt die Gruppe zur Abwechslung mal in die Stadt, bestellt er sich sein Bier auf estnisch.

Er sieht in dem Aufenthalt eine große Chance. Eine Chance, etwas Neues kennen zu lernen, zu beweisen, dass er mit ungewohnten Situationen umgehen kann. Und eine Chance, dass ihm der Aufenthalt bei der späteren Arbeitssuche hilft. Von den attestierten Lernschwierigkeiten ist gerade bei Ingo wenig zu spüren. Er weiß Bescheid über das estnische Durchschnittseinkommen, die Größe des Landes, den EU-Beitritt. Wenn Steinmeyer und Heider sich über das Land unterhalten, hört er mit großem Interesse zu.

Dafür kommt er auf der Baustelle bisweilen nicht so zurecht wie die anderen, hat bei manch einfachem Handgriff Probleme, steht im Weg rum. Er ist anders als die anderen, zurückhaltend, vorsichtig. Anders als beispielsweise Ben*, der Klassensprecher. Der, groß und selbstbewusst, ist eher praktisch engagiert. Er will, dass das Holzhaus bis zu seiner Abfahrt steht, also packt er auch sonntags an. Zwei Klassenkameraden helfen ihm, während die anderen Fußball spielen oder in die Sauna gehen.

Dem 20-Jährigen gefällt es gut in Estland. „Hier ist zwar tote Hose, nix los“, sagt er und lässt seine blauen Augen durch den Wald schweifen, „aber ich finde es gar nicht so schlecht.“ Und fügt nach einigem Nachdenken hinzu: „Ich hätte es auch ein halbes Jahr hier ausgehalten.“

* Namen geändert