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Irres und Wirres aus Mainz

Alle zwei Wochen präsentieren sich Autoren bei der Lesebühne Story Slam im Tacheles

„Früher habe ich in Bremen bei Peter Zadek Theater gespielt“, erzählt Ellen Esser lachend. „Jetzt organisiere ich diesen Story Slam in Mitte. Heute schon zum fünften Mal. Unser Publikum ist ja altersmäßig ziemlich gemischt. Oder?“

Wir blicken uns um. Die Ladengalerie im Tacheles ist mit Leuten um die dreißig gefüllt. Ein langer Lulatsch mit einem rosenbildbedruckten Seidenhemd stellt sich grinsend auf die Bühne: Jakob Wurster, der Moderator des Abends. Er erklärt die Spielregeln. Jeder Vorleser hat fünf Minuten. Danach vergibt eine freiwillige Publikumsjury Noten und die Zuhörer können noch ihre Wertung per Applaus abgeben.

Offenbar sind gebürtige Berliner für derartige Aktionen einfach zu cool. Fast alle LeserInnen des Abends kommen nämlich aus Mainz. Dass die Texte von unterschiedlicher Qualität und durchwachsenem Unterhaltungswert sind, ist klar. Hier darf man mal ausprobieren, wie das ist, wenn man vor Publikum eigene Geschichten vorliest.

Auch, wenn man wie Viola aus Hellersdorf kommt, biederen Kuschelkram von „Weihnachten unter Palmen“ halluziniert und ganz aufgeregt ist. Oder der schlaksige Andreas aus Trier. Mit Anzug und Nickelbrille stehgreift er wild gestikulierend „Wunderliches“ von einem Araber, einem Polizisten und einem Schachspieler, und die Leute lachen sich tot. Der Dia-Projektor wirft eine grüne Ampel an die Wand, als Giscard nuschelt, wie ihn einmal eine Ketchup-Flasche zum Oralsex verführen wollte. Dabei zieht Ellen Esser, die die Darbietungen auch als DJ begleitet, die Regler hoch und durchwabert den Raum mit wummernden Sounds.

Ziemlich beknackt das Ganze also. Aber in seiner Naivität auch wieder anrührend. Vor allem, als Iris die Bühne betritt. Iris ist auch aus Mainz und „ein ganz fröhlicher Mensch“, lebt aber „seit 13 oder 23, ach nein: 21 Jahren, haha!“ in Berlin. „Am Anfang in Siemensstadt, das war hart. Da wurde auch einer neben mir ermordet, und damit bin ich bis heute nicht klargekommen. Deshalb schreibe ich“, sagt sie leise. Das klingt überzeugend. Und dann liest sie vor, wie sie ihre Freud-Ausgabe aus dem Fenster warf und die Alkoholiker von der Straße begannen, sich mit Hysterie zu beschäftigen. Irre. 20 Punkte für Iris und ihre Geschichte. Übernächsten Mittwoch hoffentlich wieder.

JAN SÜSELBECK

Wieder am 15.9. und dann zweiwöchentlich, 21 Uhr, Tacheles, Ladengalerie, Oranienburger Str. 53–56, Mitte

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