Sind taz-Leser Masochisten?

Hinter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ steckt immer ein kluger Kopf. Aber wer liest eigentlich die tageszeitung? Erinnerungen eines „FAZ“-Herausgebers daran, wie er selbst einmal auf dem Dach des Rudi-Dutschke-Hauses stand
von FRANK SCHIRRMACHER

Eine Zeitung, die, bevor es kein anderer sagt, von sich selber sagt, daß sie sein muß, und ihr permanentes eigenes Bedrohtsein als Widerbild ihrer angeblichen Bedrohlichkeit ihren gläubigen Lesern einpeitscht, die, wenn sie dennoch an die Existenznotwendigkeit dieser Zeitung nicht glauben mögen, mit der Knute des kollektiven linken Über-Ichs zur Subskription geprügelt werden und offenbar auch gar nichts anderes erwarten, als unter mehreren moralisch erpresserischen Preiskategorien wählen zu müssen, von denen die kostspieligste und räuberischste Leser anspricht, die, wie die Zeitung formuliert, „es sich leisten können, anderen zu helfen“ (nämlich der taz), ein Satz, dessen Verneinung man sich einmal durch den Kopf gehen läßt, um die versicherungsmaklerhafte Unwideruflichkeit dieses Winterhilfswerks der Linken zu würdigen, während die billigste auf jene Millionäre zielt, die im Aldi kaufen, aber eben nicht die taz, worauf man vermehrt in Artikeln über das Altern und die soziologische Gesellschaft ein strenges und ganz unelegant argumentatives „Es ist doch so:“ liest (13./14. 9., S. 6), und dann ellenlang nur über sehr alte vergeßliche Leute schreibt, als müßten nun sogar die Treuesten der Treuen schon daran erinnert werden, wie es ist, obwohl sie ja die „taz“ eigentlich machen, weil nichts so bleiben darf, wie es ist, nicht einmal der eigene Körper, eine Erkenntnis, die mit der Aboprämie Rudi Dutschke belohnt wird, und also „Zweifel und Ratlosigkeit und ebenso seine unbeirrbare Überzeugung, dass die Gesellschaft radikal verändert werden muss, damit der Mensch ein Mensch sein kann“, was am Ende kritisch wiederum auf jene amtierenden Minister zielt, die die taz zum ermäßigten Preis beziehen und die noch gar nicht mal waren, als ich mit dem Urvater dieser Zeitung, mit dem dann in Kenia aus den Augen verlorenen Arno Widmann, einst auf dem Dach der taz stand und er über die Mauer zeigte und dabei den Satz sagte: „Da drüben gibt es keinen Blumenkohl“, eine solche Zeitung sollte als Prämie für wirkliches Riskio lieber ein langes Gedicht oder ein Essay von Benn drucken oder den jetzt urheberrechtlich frei gewordenen George, statt für alles zuständig sein zu wollen, zwar gerade deshalb, weil sie es sich nicht leisten kann.

Keine Angst vor den Lesern. Was dahintersteckt, ist also leicht zu bestimmen. Dahinter steckt immer ein masochistisches Herz. Das medizinische Wörterbuch schreibt: „Sehnsucht nach Unterordnung, Demütigungen und sogar Mißerfolgen im privaten, beruflichen und/oder gesellschaftlichen Leben. Dabei genießen die Betroffenen Leid, Schuld und Minderwertigkeitsgefühle und nehmen schlechte Behandlung u. ä. ohne Proteste genußvoll hin.“ Eine Zeitung, der es angeblich gelingt, ihren Neukunden dadurch ein schlechtes Gewissen zu machen, daß sie nicht noch mehr Abos beziehen, die es darauf anlegt, sie sogar durch die Auslobung ihrer Prämien zu demütigen („Rucksack der Firma Deuter im rot-schwarzen Design besticht durch fließende Formen“), und so sadistisch ist, daß sie sogar das wurmstichige Umlageverfahren für die Rentenversicherung wie eine Köstlichkeit ihren Lesern zum Munde führt, ein solches Journal bindet gewiß sechzigtausend Leute, und die Frage, „wozu“, ist ganz falsch, weil es ja um Unterwerfung und also nicht um einen verwertbaren Zweck geht, worauf die einst legendären taz-Dossiers mittlerweile leider die traurige Probe machen, und daß es auch zweihundertausend Leute sein könnten, dazu müßte anderes drinstehen: Gefährliches, Lauerndes, so ein Schild müßte das sein, auf dem steht: „Hier wache ich“. Ein Interview zum Beispiel mit Bundeskanzler Kohl über seinen bissigen Schäferhund läse ich von Zeit zu Zeit ganz gern.

Fotohinweis: FRANK SCHIRRMACHER, 44, ist Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung