Die erpresste Sorge um sich

Eine Antigone des Gesundheitswahns: Juli Zeh attackiert mit Tragödienmustern die Hygienegesellschaft – „Corpus Delicti“

VON KATHARINA GRANZIN

Jede Zeit hat ihre eigenen Moden, Phobien und Absurditäten, die irgendwann von anderen Phobien, Absurditäten und Moden abgelöst werden. Wenn aber eine paranoide gesellschaftliche Anwandlung ihrer regelgerechten Ablösung zu lange widersteht, bleibt die betroffene Gesellschaft nie unbeschadet zurück. Man könnte sich beispielsweise vorstellen, ein paar der zentralen Eigenarten der deutschen Gegenwart dürften sich einige Jahrzehnte lang ungestört weiterentwickeln und würde dabei vielleicht auf folgende Antiutopie kommen: In der Mitte des 21. Jahrhunderts ist der „Staat“ abgelöst worden von einem neuen gesellschaftlichen Ordnungsbegriff, der „Methode“. Deren oberstes Ziel ist die permanente Gesundheit aller Bürger, weshalb diese zu gewissenhafter Lebensführung verpflichtet sind. Ein Chip im Oberarm jedes Individuums gewährleistet größtmögliche Kontrolle; ein umfangreiches System von Rechtsvorschriften und Sanktionen sorgt dafür, dass gesundheitsgefährdendes Verhalten nachhaltig unattraktiv ist. Auf „Missbrauch toxischer Substanzen“ wie Alkohol, Nikotin oder Koffein stehen Gefängnisstrafen. Die obligatorische sportliche Betätigung wird ebenso überwacht wie das Paarungsverhalten, denn es darf nur mit Angehörigen derselben Immungruppe intimer Umgang gepflegt werden.

Dieses Szenario entwarf Juli Zeh (dem Vernehmen nach Raucherin) mit ihrem ersten Theatertext „Corpus Delicti“ für die Ruhrtriennale 2007. Jetzt ist „Corpus Delicti“ als Prosawerk erschienen. Im Vergleich beider Texte profitiert die Prosavariante deutlich mehr von der gegenseitigen Befruchtung der Gattungen. Der Theatertext trägt sehr schweres Gepäck, da seine Autorin nicht verzichten will auf die gut eingeübte Erzählerrolle. Ausführliche narrative Passagen, die nicht einmal ansatzweise vorgeben, Regieanweisungen zu sein, machen den Text zwar gut lesbar, lassen ihn als dramatische Vorlage jedoch deutlich überdeterminiert wirken. (Es muss halt die jeweils regieführende Person ein echtes Stück daraus machen.)

Dass Zeh nicht wirklich versucht hatte, sich den Erzählgestus zu verkneifen, konnte ihr andererseits beim Abfassen des Prosatextes viel Arbeit ersparen; denn so galt es hauptsächlich, zwischen den Repliken noch hier und da ein „sagte Mia“ und minimale zusätzliche Handlungsbeschreibungen einzufügen. Das nun vorliegende Werk heißt in der Unterzeile „Ein Prozess“ statt „Ein Roman“, was angesichts der Tatsache, dass Zehs romanhafter Dramentext überall umstandslos als Theaterstück bezeichnet wird, etwas pedantisch erscheint. Hier aber soll dieser „Prozess“ Roman genannt sein. Dieser Roman also profitiert sehr von seiner Entstehungsgeschichte. Für die Bühne gedacht, sind Zeit, Ort und Handlung in mustergültiger Weise komprimiert vorhanden, was dem Text eine auf das Wesentliche reduzierte, klaustrophobische Anmutung verleiht.

Vor dem Hintergrund von Zehs antiutopischem Gesundheitsterror wird eine klassische Tragödie gegeben oder besser: zitiert. Mia Holl, so heißt die Heldin, ist eine junge Frau, die ihren Bruder verloren hat; eine Antigone der postpolitischen Hygienegesellschaft. Moritz Holl, ein für die „Methode“ allzu freigeistiger Waldspaziergänger und Heimlichraucher, war angeklagt worden, eine Frau vergewaltigt und ermordet zu haben. Nachdem er zu lebenslangem Eingefrorensein verurteilt worden war, hat seine Schwester ihm eine Angelschnur ins Gefängnis geschmuggelt, mit der er sich erhängen konnte. Nun ist sie also in Trauer. Doch deren Begleiterscheinungen, wie mangelnde Pflege der Wohnung und des Körpers sowie das Ausbleiben sportlicher Betätigung, entgehen den überwachenden Instanzen der „Methode“ nicht. Mia wird – hier setzt die Handlung ein – zur Verwarnung vor Gericht geladen.

Dieses Gericht allerdings, dem als Schauplatz und regulierende Instanz der „Methode“ eine zentrale Rolle zukommt, besitzt mitnichten die wirkliche Macht. Diese üben vor allem die wenigen vorhandenen Medien aus, deren herausragender Vertreter, ein als bildschön beschriebener Mann namens Heinrich Kramer, Mias Gegenspieler ist. Von Kramer, der tendenziöse Leitartikel über sie schreibt, und den Nachbarinnen, die, als „Wächterinnen“ des Systems, kleinste Verfehlungen melden, wird sie in eine Außenseiterrolle gedrängt, die sie gar nicht haben will. Doch als auch noch noch die Unschuld ihres Bruders bewiesen werden kann, wird die Angepasste zur Widerständlerin.

Aus Juli Zeh aber ist, obwohl das nach der Uraufführung von „Corpus Delicti“ gern mal so hingeschrieben wurde, mit diesem neuen Werk noch lange kein weiblicher George Orwell geworden. Dieser kleine, konzentrierte Roman ist eines jener Gedankenexperimente, wie Zeh sie eben gut schreibt und die man, wenn man dergleichen nicht mag, leicht als zu durchkonstruiert, zu wohlformuliert, zu sehr auf den äußeren Effekt gearbeitet kritisieren kann. Das alles aber ist noch kein Argument gegen den Text an sich. Natürlich ist es wahr, dass man nach der Lektüre von „Corpus Delicti“ nicht so grundlegend erschüttert zurückbleibt, wie man es von „1984“ vielleicht noch im Gedächtnis hat. Aber es würde ja auch niemand ernsthaft die Gesundheitskarte in puncto Totalitarismuspotenzial gegen den Stalinismus aufrechnen. Oder etwa doch?

Allein die Tatsache, dass der Handlungsverlauf den Orwell-Vergleich tatsächlich nahelegt, sollte eigentlich zeigen, dass Zehs Roman/Stück/„Prozess“ bei aller formalen Tragödienhaftigkeit auch eine satirische Deutung zulässt. Doch gleichzeitig ist er von einer so unironischen Ernsthaftigkeit, dass diese Deutung ganz und gar unmöglich scheint. Da muss man dann doch fragen dürfen: Warum?

Juli Zeh: „Corpus Delicti“. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2009, 264 Seiten, 19,90 Euro