„Tagesspiegel“ wird Extrablatt

Holtzbrinck verkauft „Tagesspiegel“ an Exmanager. Die publizistische Vielfalt auf dem Berliner Zeitungsmarkt ist damit formal gesichert. Doch die großen Tageszeitungen und auch die Stadtmagazine „Zitty“ und „Tip“ schauen in eine ungewisse Zukunft

von RAINER BRAUN

Es gibt Geschichten, die scheinen so schlecht erzählt, dass sie eigentlich keiner glauben mag. So ist es denn auch auf den zweiten Blick ein medienpolitischer Treppenwitz, wenn ausgerechnet der ehemaliger Holtzbrinck-Manager Pierre Gerckens nun den Tagesspiegel von Holtzbrinck erwirbt – und damit den Weg frei macht für den Zukauf der Berliner Zeitung durch Holtzbrinck. Dieser bauernschlaue Schachzug hinterlässt viele Gewinner. Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) ist der Kalamität enthoben, eine kartellrechtlich bedenkliche Ministererlaubnis zur Fusion zu erteilen. Dem Hamburger Verleger Bauer (Neue Revue, Neue Post) wurde der Zugang zum Berliner Printmarkt verwehrt, was viele wollten. Last but not least wurde so die publizistische Vielfalt in der Hauptstadt formal gesichert. Aber darf das die Leserinnen und Leser an der Spree freuen?

Die Bedenken gegenüber einer weiteren Konzentration des Berliner Zeitungsmarktes werden nicht verstummen. Wenn Holtzbrinck die Berliner erwirbt, dürfte zumindest eine neue Runde in der „Kooperation“ mit dem Tagesspiegel eingeläutet werden. Ob die bei einer engeren Zusammenarbeit von Vertrieb und Anzeigenverkauf endet, bleibt offen. Und damit sind perspektivisch auch die Gerüchte nicht vom Tisch, dass die Berliner Zeitung zugunsten des Tagesspiegels skelettiert wird. Denn warum sollte es schließlich Gerckens gelingen, ein Unternehmen profitabel zu machen, das nicht einmal ein Großkonzern wie Holtzbrinck trotz beträchtlicher finanzieller Anstrengungen in die Gewinnzone führen konnte?

Weitere Veränderungen auf dem Printmarkt sind also absehbar. Das dürfte nicht zuletzt die beiden Stadtmagazine Tip und Zitty betreffen. Denn analog zum Tageszeitungsreigen wandert der Tip nun von Gruner + Jahr zu Holtzbrinck. Und Holtzbrinck verkauft seine Zitty ebenfalls an Gerckens. Branchen-Insider befürchten, dass der jüngste Relaunch von Zitty (Auflage rund 70.000) vor allem darauf abzielt, das Blatt für einen Weiterverkauf interessanter zu machen.

Ungewissen Zeiten sieht auch der direkte Konkurrent entgegen. Zwar hat der Tip (Auflage rund 80.000) die anhaltende Krise auf dem Anzeigenmarkt halbwegs gut verkraftet und schreibt dem Vernehmen nach schwarze Zahlen. Aber was nach dem Verlagswechsel mit dem Stadtmagazin passiert, weiß im Moment noch nicht einmal die Geschäftsleitung.

In mancher Hinsicht ist die unklare Situation der beiden Blätter symptomatisch für die delikate Situation auf dem Berliner Printmarkt. Denn es sind bei weitem nicht nur die Folgen der massiven Werberückgänge, die den Großverlegern zu schaffen machen, sondern auch veritable Fehleinschätzungen des Managements. So nutzten die Geschäftsleitungen von Gruner + Jahr und Holtzbrinck mögliche Synergien der Stadtmagazine für ihre jeweiligen Tageszeitungen nur rudimentär – die verunglückte Ticket-Beilage beim Tagesspiegel gibt darüber beredt Auskunft.

Der Zeitungsmarkt an der Spree war jenseits aller kartellrechtlichen Vorbehalte im Westen der Stadt bis 1989 ein „closed shop“, den zu 87 Prozent der Springer-Konzern dominierte. Blütenträume, die im wiedervereinigten Berlin satte Profite und Hauptstadtblätter mit internationaler Ausstrahlung imaginierten, platzten. Statt zu wachsen, sackten die Auflagen fast unisono genauso steil nach unten wie bei den Regionalzeitungen der ehemaligen DDR und den Boulevardblättern im Westen.

Als relativer Gewinner unter den Regionalakteuren durfte sich allenfalls der Tagesspiegel (Auflage 150.000) sehen, der im Vergleich zur Vorwendezeit leicht zulegte, wo alle anderen verloren. Springers B.Z. (1995: 313.000 Exemplare, heute: 222.000) verlor wie Gruner + Jahrs Berliner Zeitung (1995: 237.000, aktuell: 193.000) oder Springers Morgenpost (1995: 190.000, heute: 150.000).

Überraschen konnte dies schon deshalb nicht, weil der Zeitungsmarkt auch im Jahr 14 nach der Wende erstaunlich segmentiert ist und die Lesergewohnheiten in Ost und West auseinander klaffen. Stagnierende Bevölkerungsentwicklung und anhaltend angespannte Kassenlage der Berliner Privathaushalte führten zudem dazu, dass Zugewinne im Wesentlichen nur auf Kosten der Konkurrenz zu erzielen sind.

So dürfte bald eine neue Runde im Konzentrationsprozess eingeläutet werden – wie hoch dabei der Erhalt der publizistischen Vielfalt zu veranschlagen ist, hat Springer gezeigt, als er aus wirtschaftlichen Überlegungen die Redaktionen von Welt und Berliner Morgenpost unter Personalabbau zusammenlegte. Dies ist bei den Lesern der Mopo nicht gut angekommen. Der Markt besteht offenbar auch aus Konsumenten, die auf qualitative Veränderungen sensibler reagieren, als es manche Geschäftsleitungen wahr haben wollen.

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