: Erfahrung einer Generation
„Eine Frau in Berlin“ erschüttert die Leser, weil sie an kollektiv Verdrängtes lakonisch erinnert. Nur das zählt
Ja, ich gestehe, ich gehöre auch zu jenen „gutwilligen Leichtgläubigen“, die „Eine Frau in Berlin“ für das Buch des Jahres hielten (taz, 13. 5. 2003). Die atemlos Seite für Seite umschlugen und nicht wussten, was ungeheuerlicher war: das beschriebene Grauen selbst oder der scheinbar unbeteiligte Ton, mit dem Anonyma über wiederholte Vergewaltigungen berichtete. Seitdem Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung vergangenen Mittwoch verlegerische und herausgeberische Unsauberkeiten, ja vermutlich gar Lügen über die Entstehung des Textes „Eine Frau in Berlin“ bemängelt hat, beschäftigt sich das Feuilleton wie weiland bei Haffner mit der Frage von Authentizität und Fälschung.
Man kann die Fragen, die Bisky aufwirft, wichtig finden – was an diesem Text ist tatsächlich echt und von wem, und wie viel wurde nachträglich und vorsätzlich von Kurt Marek bearbeitet; wann hat die „anonyme“ Autorin auf wessen Anregung hin und mit wessen Hilfe die Fassung für die Übersetzung ins Amerikanische erstellt, und ist sie identisch mit der 1959 abgedruckten deutschen? Was passierte mit früheren Fassungen? Und als was soll man dieses Buch lesen, welche Ansprüche hat es? Sachbuch, Zeitgeschichte oder Pamphlet? Als zeitgeschichtliches Dokument ist es für Bisky wertlos, es sei lediglich ein Dokument für die Umtriebigkeit seines Verlages. Nun, es soll einem Autor nichts Schlimmeres widerfahren sein, als von einem umtriebigen Verlag betreut zu werden. Und was die Genre-Zuordnung angeht, verliert sie sich nicht sowieso in den Weiten der subjektiven Lesart, wenn sie sich erst einmal in den Händen von „gutwilligen Leichtgläubigen“, also Lesern befindet?
Kann es uns nicht egal sein, welche Fassung wir in den Händen halten, wenn uns der Text beeindruckt. Nein, wir sind ja auch an Wahrheit interessiert und an nichts weniger als an Authentizität. Was fandst du denn überhaupt so toll an diesem Text?, fragte mich eine Freundin, die meine Begeisterung von Anbeginn an nicht teilte – und da musste ich noch mal ganz scharf nachdenken. Ich erinnere mich an die Faszination, die ich angesichts des Tons entwickelte, eine Faszination, die mir selbst fast unheimlich schien,wenn ich daran dachte, worum es da eigentlich ging. Ja, aber gerade der Ton sei doch abstoßend gefühlskalt gewesen, wendet die Freundin ein, und es werde nicht klar, ob durch die Umstände betäubt oder in dem Sinne wie ehemalige Nazissen nur Mitgefühl mit dem geschundenen Deutschland entwickeln können, Selbstmitleid also.
Ja, genauso hatte ich es auch teilweise empfunden – aber dieser Ton geht über die Nazi-Bösartigkeit hinaus, es ist die Banalität des gewöhnlichen Bösen, des vielleicht sogar noch nicht mal nur deutschen Bösen, wenngleich wir es hier am besten orten und bestimmen können. Es ist die Stimme, die man auch bei Marlene Dietrich hören kann, wenn sie mit Maximilian Schell über ihr Leben spricht; es ist der Ton, den ich von meiner eigenen Mutter kenne und von Frauen ihrer Generation – und war und ist diese Generation nicht auch kühl und anästhesiert? Dieses ständige Aussparen, das angebliche Nichtwissen oder Nichterinnern. Diese betonte Unsentimentalität. Das Grobe und Abrupte. Der Ton ist so deutsch, wie es deutscher kaum geht, und was das angeht, ist Berlin schon immer das Deutscheste gewesen. Insofern würde ich „Eine Frau in Berlin“, von wem auch immer sie unter welchen Umständen auch immer geschrieben wurde, immer wieder verteidigen wollen: als einen Text, der mich erschüttert und beeindruckt hat über das hinaus, was er beschreibt – und der mir die Erfahrung einer Generation sehr deutlich gezeigt hat, die ich in dieser Klarheit vorher nicht gesehen habe.
Die Auseinandersetzung über Anonyma geht über das Buch hinaus. Es hat etwas mit dem Recht auf subjektive Erfahrung zu tun, mit Kriterien wie Wahrheit, Verlässlichkeit und Lauterkeit. Also: mit Betrug am leichtgläubigen Kunden – ich sehe das alles ein. Dennoch schiebt sich mir immer ein Satz von Robert Anton Wilson in dieses Einsehen: Der Erleuchtung ist es egal, wie du sie erlangst. Mir ist die Fragilität und Zwiespältigkeit dieses Mottos durchaus bewusst. RENÉE ZUCKER
Anonyma: „Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945“, Eichborn, Frankfurt am Main 2003, 19,90 €
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