Der Mann auf dem Drahtseil

Elia Kazan machte Stars, verriet seine Freunde und prägte als Regisseur eine ganze Epoche des amerikanischen Kinos. Er bereute nichts in seinem Leben

von PHILIPP BÜHLER

Er hat an Amerika gelitten, und Amerika an ihm. Eine ganze Epoche des amerikanischen Kinos wurde geprägt von einem Mann, der es wie kein anderer verstand, das Realistische mit dem Epischen zu verbinden und in der psychologischen Durchdringung seiner Figuren den Finger auf die Wunde zu legen. Im Epos seines eigenen Lebens verkörperte Elia Kazan die Zerrissenheit seines Landes, die Unvereinbarkeit der hehren Ideale mit der Wirklichkeit. Sein immer etwas schmuddeliger Kleidungsstil war Teil der Inszenierung als Schmuddelkind einer Gesellschaft, die ihn nach seiner Aussage vor dem „Ausschuss für unamerikanische Umtriebe“ des US-Senats zum Außenseiter stempelte. Seine Filme handelten von solchen Außenseitern, wie der 1909 in Istanbul geborene Elia Kazanjoglou selbst einer war, als er als ungeliebter Sohn griechisch-anatolischer Einwanderer zur Zeit der Weltwirtschaftskrise in New York aufwuchs. Der er blieb, nachdem er vor dem McCarthy-Ausschuss acht seiner kommunistischen Freunde verriet.

Kazans Helden stehen unter fortwährendem Druck, von innen und außen. Ein unauflösbarer Zwiespalt lässt ihnen nur die Wahl, sich selbst zu betrügen oder andere zu betrügen, die eigenen Ideale oder die der anderen zu verleugnen. Das Ergebnis ist in jedem Fall ein Selbstbetrug.

Als exemplarische Verteidigung der Denunziation galt schon 1954 sein ohne Zweifel berühmtester Film „Die Faust im Nacken“, die Geschichte des proletarischen Exboxers und Hafenarbeiters Terry Malloy. Er ist der Handlanger einer von Gangstern unterwanderten Gewerkschaft, die die Interessen der Arbeiter mit Füßen tritt. Nach langem Zögern entschließt er sich, vor einem Untersuchungsausschuss die Namen seiner ehemaligen Freunde zu nennen. Die Verschmelzung mit seiner Entdeckung Marlon Brando war perfekt, der Film über Jahre umstritten, auch wenn er seinem Regisseur einen Regie-Oscar einbrachte.

„Jenseits von Eden“, drei Jahre nach der Aussage vor dem Ausschuss entstanden, überhöht die Verbindung von Leben und Werk ins Biblische der Steinbeck-Vorlage. Der von James Dean verkörperte Cal Trask, psychisch labiler Sohn eines Farmers, bereichert sich, indem er aus dem nationalen Elend des Ersten Weltkriegs Nutzen schlägt. Der Verrat am eigenen Land ist ein Dienst, der vom Vater nicht gedankt wird. In verzweifeltem Zorn verrät er schließlich seinen Bruder („Soll ich meines Bruders Hüter sein?“). Von seinem Ziel, der Anerkennung durch die Gesellschaft, hat er sich damit endgültig entfernt.

Kazan blieb seinen Idealen treu, indem er sie verriet, oder freundlicher formuliert: einer ständigen Überprüfung unterzog. Die Denunziation seiner Kollegen hat er Zeit seines Lebens so wenig bereut wie seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei 1934 bis 1936. Angefangen hatte alles mit seiner Arbeit als Schauspieler und Regisseur am linksavantgardistischen New Yorker Group Theatre. Seine Broadway-Inszenierungen gelten als bahnbrechend. Ohne seine intensive Beschäftigung mit Autoren wie Arthur Miller und Tennessee Williams hätte es den Boom der sozialkritischen Theaterverfilmung in den Fünfzigern nie gegeben. Auch nicht Kazans eigene Adaption von „Endstation Sehnsucht“ im Jahr 1951, deren Erfolg Marlon Brando als Star und Rollentyp einer ganzen Generation etablierte. Doch der zerrissene Draufgänger ist nur der berühmteste von vielen jungen Schauspielern, die Kazan mit seiner wohl folgenschwersten Erfindung nachhaltig formte und förderte: dem Actor’s Studio, das er 1947 zusammen mit Lee Strasberg gegründet hatte.

Hier unterrichtete er unter anderem Montgomery Clift und James Dean im Method Acting. Die Forderung Stanislawskis nach der Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle kam seinem künstlerischen Selbstverständnis entgegen. Doch die technischen Voraussetzungen, das Innere nach außen zu kehren, sah er bald nur noch im Film. „Die Kamera“ sagte er, „ ist wie ein Mikroskop, sie ist ein Mittel für intime Durchdringung, die durch die Augen sogar den Geist sieht.“ In zutiefst verdienstvollen Filmen wie der Antisemitismus-Anklage „Tabu der Gerechten“ (1947), für die er seinen ersten Regie-Oscar entgegennahm, oder „Viva Zapata!“ verwirklichte er sein Ideal vom rebellischen Außenseiter in einer erbarmungslosen Welt. Mit seiner Bevorzugung unbekannter Schauspieler, der Ablehnung von Studiofilmen zugunsten realistischer Originalschauplätze und seinem Beharren auf dem Mitspracherecht beim Drehbuch wurde er sogar zu einem Vorbild des „Cinéma d’auteurs“. Für François Truffaut war James Deans versonnener Tanz im Bohnenfeld, der in keinem Drehbuch stand, einer der bezauberndsten Momente der Filmgeschichte.

In der Welt Elia Kazans gab es, wie er in seiner Autobiografie „A Life“ schrieb, „kein Vergeben und kein Vergessen“. Er verlegte sich auf die Schriftstellerei und verwirklichte nur noch wenige Filme, darunter eine Eigenadaption mit dem bezeichnenden Titel „The Arrangement“ (1969). 1989 sollte er erstmals den Oscar für sein Lebenswerk erhalten. Sein Name wurde stillschweigend gestrichen. Zehn Jahre später war es dann so weit.

Elia Kazan starb am Sonntag in seinem Haus in Manhattan. Er wurde 94 Jahre alt.