„Die Menschen schämen sich“

Das EU-Projekt Forward will das innere Exil beenden, in dem Analphabeten leben. In Norwegen hilft eine Ministerin – weil sie offen bekennt, Analphabetin gewesen zu sein

taz: Frau Letrud, Sie treffen sich morgen mit Analphabetismus-Initiativen aus ganz Europa. Wie ist Ihre Bilanz?

Wir sind Initiativen aus elf Ländern, von Slowenien bis Irland, von Malta bis Norwegen. Was uns alle gemeinsam beschäftigt, ist die Unwissenheit der Menschen. Das Problembewusstsein dafür, dass es auch in industrialisierten Ländern mit gut ausgebautem Schulwesen Menschen gibt, die kaum lesen und so gut wie gar nicht schreiben können, ist sehr unterschiedlich – selbst in den Regierungen.

Was meinen Sie?

In Zypern haben wir Minister getroffen, die vollkommen baff waren, wie viel Menschen prima sprechen, aber unfähig sind zu schreiben. Das Projekt Forward, das die EU finanziert, versuchte erstmals einen Informationsaustausch nationaler Initiativen. Der Effekt hat uns selbst überrascht. Wir waren etwa in Malta und Slowenien im Fernsehen – danach stand das Telefon nicht mehr still. Die Leute wollten wissen: Was können wir tun?

Was konnten Sie tun? Sie sind für Multiplikatoren da.

Wir haben diesen Menschen gezeigt, welche Kurse es gibt, was sie wo lernen können. Aber es stimmt. Mein Ziel ist es, die Aufmerksamkeit für Lese- und Schreibunfähigkeit zu steigern. Das ist der erste und wichtigste Schritt bei der Alphabetisierung.

Kofi Annan hat vor einem Jahr die Dekade der weltweiten Alphabetisierung ausgerufen. Gibt es da Erfolge?

Zum Bilanzieren ist es noch zu früh. Die Schwierigkeiten, auf die wir treffen, sind massiv. Osteuropa zum Beispiel hat so viele Probleme, es gibt einfach nicht genug Geld. Und die Menschen schämen sich furchtbar davor, zuzugeben, dass sie nicht lesen und schreiben können.

Diese Scham gibt es doch auch im Westen.

Selbstverständlich. Aber wir haben spektakuläre Fälle. Eine Ministerin hat sich offen zu ihrer Dyslexie, ihrer Schreibstörung, bekannt, Erna Solberg. Wenn die Beamten sich über ihre Krakelschrift wundern, bekennt sie: Ich kann nicht richtig schreiben, ich war Analphabetin!

Wie reagierten die Norweger darauf?

Es hat uns noch einmal aufgerüttelt. Es herrscht immer eine große Stille, wenn Erna das zugibt. Ihre Dyslexie wurde mit 16 entdeckt. Ein Schuldoktor, wie wir das nennen, sagte ihr: „Es gibt nur einen Weg, schreiben zu lernen. Du musst dich neu zusammensetzen.“

Haben Analphabeten, auch wenn sie ihre Schreibschwäche überwinden, überhaupt eine Chance, in der Wissensgesellschaft mitzukommen?

Minister ist ja schon ganz gut. Aber im Ernst. Es gibt wirklich ermutigende Beispiele. In Oslo hatte ich als Sprachlehrerin einen Jungen, der wirklich mit der Schrift gerungen hat. Er hat gekämpft – und wir haben es geschafft. Er hat heute einen Job, er muss sich nicht schämen.

Was kann eine Gesellschaft gegen Analphabetismus tun?

Die Politik ist wichtig. Wenn sie das Problem nicht negiert, sondern den Initiativen Geld zur Verfügung stellt. England ist ein gutes Beispiel. Seit Tony Blair an der Regierung ist, müssen die Schreibkurse nicht mehr in schmuddeligen Hinterhöfen abgehalten werden. Die Initiativen sind anerkannt, sie haben Mittel, es gibt eine spezielle Weiterbildung für die Lehrer. England ist unser Musterschüler.

Welche Tipps haben Sie für die Deutschen?

Die Schulen müssen verstehen, dass der Unterricht individuell sein muss. Anders geht es nicht, weil jedes Kind anders ist. Und die Bundesländer müssen sich eingestehen, dass auch Deutschland ein Problem hat. Die Kultusminister müssen sich zusammenraufen – und die Alphabetisierung zentral koordinieren.

Was ist Ihr Rezept?

Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit – und Familienlernen. Die Ursachen für Analphabetismus sind komplex, aber in den Familien bündelt sich die Mühsal mit dem Lesen und die Abwehr gegen das Schreiben. Das heißt: Wir müssen auch die Eltern zum Mitlernen animieren.

INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER