Der heimliche Kampf mit der Schrift

Heute ist Weltalphabetisierungstag. Deutschland gehört zu den Sorgenkindern der UN-Dekade zum Kampf gegen den Analphabetismus. Vier Millionen Bundesbürger haben große Probleme mit dem Lesen und Schreiben – und trauen sich oft nicht, darüber zu sprechen. Kai-Uwe Mix war einer von ihnen

VON KARIN LOSERT

Anfangs haben sich seine Freunde noch gefreut über die Postkarten. Aber irgendwann konnten sie die Kritzel und Krakel nicht mehr entziffern. Denn die Urlaubsgrüße von Kai-Uwe Mix waren eine lose Ansammlung von Anfangsbuchstaben und undefinierbare Wellenlinien. Dabei hatte der heute 41-Jährige keine schreckliche Klaue – er konnte nicht schreiben. Er kämpfte sein Leben lang mit der Schrift.

Weltweit gibt es rund 862 Millionen Analphabeten. Doch das Problem liegt nicht allein in den Entwicklungsländern. Auch im wohlstandsverwöhnten Deutschland leben schätzungsweise vier Millionen Menschen, die wie Kai-Uwe Mix Lesen und Schreiben nie richtig gelernt haben. Zur Schule gegangen sind sie fast alle, die meisten können einzelne Wörter schreiben und leichte Texte lesen. Dennoch reicht es nicht aus, um im Alltag zurechtzukommen.

Vergangenes Jahr hat UN-Generalsekretär Kofi Annan in New York die Dekade zur Alphabetisierung eröffnet – und Deutschland gehört zu den Sorgenkindern unter den industrialisierten Staaten. Jährlich verlassen im Land der Dichter und Denker 80.000 Jugendliche die Hauptschule ohne Abschluss, viele von ihnen mit mangelnden Kenntnissen in Schreiben und Lesen. Daher hat sich auch Deutschland verpflichtet, die UN-Dekade aktiv umzusetzen. Ziel ist es weltweit, die Analphabetenrate in den kommenden zehn Jahren um die Hälfte zu reduzieren. In Deutschland sollen die Lernmöglichkeiten verbessert werden. Doch in Sachen Chancengleichheit und Qualität der Bildung hinkt das Land weiter hinterher.

Kai-Uwe Mix scheiterte schon in der ersten Klasse. Er lernte zwar Lesen, brachte aber keine Buchstaben zu Papier. Resultat: sitzen geblieben. Statt sich näher mit den Problemen ihres Sohnes zu befassen, schickten ihn seine Eltern – die Mutter Postbeamtin, der Vater Geschäftsführer eines Berliner SPD-Bezirksverbands – auf eine Privatschule. Als er zwölf war, trennten sich seine Eltern, das Geld wurde knapp. Er musste auf die Sonderschule, er rebellierte, schwänzte, rutschte ab ins Drogenmilieu.

Analphabet oder nicht – das entscheidet sich in den ersten drei Grundschuljahren. Wer hier nicht mitkommt, hat später kaum kaum noch eine Chance, seine Wissenslücken zu schließen – denn die Probleme summieren sich. „Die Ursachen von Analphabetismus in Deutschland sind vielfältig“, sagt Jürgen Genuneit vom Bundesverband Alphabetisierung. Materielle Probleme gehen einher mit schwierigen Familienverhältnissen oder Elternhäusern, in denen Bildung keine Rolle spielt.

„Da wurde ich eben so mitgezogen“, erklärt Kai-Uwe Mix, wie er trotzdem so lange in der Schule mithalten konnte. Er ist redegewandt, gut in Mathe mit den Zahlen. Standen schriftliche Tests an, übte er daheim. Ob Hefteinträge oder Diktate, stundenlang zeichnete er die Worte ab – und legte Butterbrotpapier unter, sodass die Buchstaben durchdrückten und er sie in der Schule nur abzumalen brauchte.

Kai-Uwe Mix wurde 1969 eingeschult. Doch die Situation von Menschen wie ihm hat sich wenig verbessert, wie die Pisa-Studie oder der Bildungsbericht der Unesco belegen. Die Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler liegen im Lesen deutlich unter dem internationalen Durchschnitt. Zehn Prozent gelten als funktionale Analphabeten, weitere 13 Prozent stehen kurz davor. Eine fehlende geregelte Vorschulbildung und eine gegliederte Schule begünstigen Schüler aus intakten Verhältnissen. „Es kann nicht sein, das schwache Schüler möglichst schnell abgeschoben werden“, kritisieren Bildungsexperten wie der ehemalige Hamburger Bildungsstaatsrat Hermann Lange. Für 57 Prozent der Schreibschwachen heißt das Abstellgleis Sonderschule.

Als er Mitte zwanzig ist, meldet sich Kai-Uwe Mix zum ersten Mal bei einem Berliner Bildungsverein für Analphabeten an. Er hat Glück gehabt, nach der Sonderschule konnte er in einem Lehrprojekt eine Ausbildung zum Raumausstatter machen. Dennoch merkte er irgendwann: „Mir fehlt etwas im Leben.“ Er absolvierte zunächst einen Orientierungskurs, in dem er lernte, sich selbst einzuschätzen und sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Nach zwei Monaten kam er in eine sechsköpfige Lerngruppe, wo ihn zwei Dozenten mit alltagsnahen Übungen auf das Leben mit der Schrift vorbereiteten.

Gab es in der Nachkriegszeit häufiger noch Berufe, in denen man ohne Lese- und Schreibkenntnisse zurechtkam, so war dies ab Ende der 70er-Jahre an immer weniger Arbeitsplätzen der Fall. Computer- und Internetkenntnisse sind heute selbst in gering qualifizierten Jobs nicht mehr wegzudenken, das Lesetempo ist höher geworden. Mittlerweile gibt es in Deutschland mehr als 2.500 Kurse pro Jahr an Volkshochschulen und in Vereinen, in denen Erwachsene nachträglich ihre Kenntnisse aufbessern können. Arbeits- und Sozialämter schicken die Teilnehmer in die Kurse. Einige kommen auch aus eigenem Antrieb – weil sie arbeitslos geworden sind oder sie die eigenen Kinder bei den Schularbeiten unterstützen wollen. Aber die Scham bleibt: Nur einer von 200 Analphabeten in Deutschland geht überhaupt zu den Schulungen. Zu groß ist die Angst, auf Bekannte zu treffen, zu groß ist die Angst, stigmatisiert zu werden.

Kai-Uwe Mix lernte schnell, dachte, er habe es geschafft. Die Verkehrsbetriebe stellten ihn als Reinigungsmann an. Doch im Gegensatz zu motorischen Fähigkeiten wie Laufen und Schwimmen, kann man Schreiben durch Nichtanwenden auch wieder verlernen. „Und ich wurde immer fauler“, bekennt er heute.

Im Jahr 2001 wagt er einen neuen Anlauf, landet beim Berliner Arbeitskreis für Orientierung und Bildung. Doch die Situation hat sich verändert. Seit Anfang der 90er-Jahre hat die Berliner Senatsverwaltung die Mittel kontinuierlich gekürzt. Mittlerweile betreut nur noch ein Dozent zehn Lernende. Früher gern genutzte kulturelle Angebote wie ein gelegentlicher Theater- oder Opernbesuch müssen aufgrund fehlender staatlicher Zuschüsse ganz entfallen. Die Warteliste für bestehende Plätze ist lang. Andere Einrichtungen zur beruflichen Weiterbildung erhielten bisher Mittel aus den Töpfen der Bundesagentur für Arbeit. „Doch seit alles Geld in die Personal Service Agenturen fließt, bleibt gerade für Zielgruppenarbeit, wie wir sie leisten, kaum noch was übrig“, klagt Ingrid Peikert vom Frankfurter Verein beramí, der sich vor allem um die Qualifikation und Integration von Migrantinnen kümmert. Die Folge: Von ehemals 24 Mitarbeiterinnen blieben nur zwölf, längerfristige Kurse entfielen ganz.

Kai-Uwe Mix meint, dass er es diesmal endgültig geschafft hat. Im Juli hat er seinen Kurs abgeschlossen, nach zehn Jahren Arbeitslosigkeit möchte er wieder im Berufsleben Fuß fassen. Doch mit jedem Gang zum Arbeitsberater schwindet die Hoffnung. „Dabei haben wir uns doch über die Dinge angestrengt, um endlich Schreiben zu lernen.“