Freude über die Probezeit

Das NRW-Schulministerium will die Ehrenrunde abschaffen und so Lehrer einsparen. Verbände und Initiativen wollen aber mehr: Schwache sollen von Beginn an stärker unterstützt werden

von SALVIO INCORVAIA

Auf diese Nachricht haben nicht nur Schüler lange gewartet: Das nordrhein-westfälische Schulministerium erwägt eine „Versetzung auf Probe“, um die hohe Zahl der „Sitzenbleiber“ zu senken. Profitieren könnten alle Schüler, die bislang nach verfehltem Klassenziel eine Nachprüfung versuchen. Der Vorschlag werde zunächst von den Verbänden erörtert, sagte Schulministerin Ute Schäfer (SPD) vergangene Woche in Düsseldorf. Immerhin benötige man für rund 60.000 Klassenwiederholer jährlich etwa 3.000 Lehrer.

„Jeder Sitzenbleiber verursacht zusätzliche Kosten pro Jahr und belastet somit die Landeskasse. Das eingesparte Geld solle jetzt für vorbeugende Fördermaßnahmen von schwachen Schülern eingesetzt werden“, sagt Udo Beckmann, Landesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Mangelnde Lehrerstellen an den Schulen seien dabei für die hohe Zahl an Sitzenbleibern im Land mitverantwortlich.

Längst sind sich Pädagogen und Wissenschaftler einig: Sitzenbleiben ist ein ungeeignetes Mittel, um schwachen Schülern zu helfen. Selbst kommerzielle Nachhilfeanbieter – turnusmäßige Profiteure der Panik vor dem Sitzenbleiben – fordern ein Umdenken in der Unterrichtskultur an den öffentlichen Schulen. In der Kritik steht dabei auch der traditionell in Deutschland praktizierte Frontalunterricht.

„Reines Stoffwiederholen reicht nicht. Die meisten Defizite beziehen sich auf Dinge wie Ausdauer, Motivation, Organisation und Konzentration“, sagt Wolfgang Schmidt, Lehrstoffexperte der „Schülerhilfe“ in NRW. Mit mehr Gruppenarbeit ließen sich diese Eigenschaften trainieren und ein Großteil der Klassenwiederholer würde vermieden werden. Besonders schwache Schüler bräuchten mehr individuelle Förderung durch private und öffentliche Institute: „Es sollte das ganze Schuljahr über professionell an den Schwächen gearbeitet werden“, so Schmidt.

In Intervallen verbuchen die Nachhilfeanbieter alljährlich einen Ansturm schwacher Schüler: Gerade nach den Halbjahreszeugnissen, den Osterferien, kurz vor und in den großen Sommerferien belastet kurzfristig ein reger Zulauf die Kapazitäten der Anbieter. Meistens soll in der letzten Minute ein Sitzenbleiben verhindern werden oder es gilt, unsichere Kandidaten auf ihre Nachprüfungen vorzubereiten.

Mehr Landesunterstützung zur Beseitigung des Sitzenbleibertums fordert ebenfalls der Verband der Schuldirektoren in Nordrhein-Westfalen. „Hier werden zeitliche und materielle Potenziale verschwendet“, sagt Wolfgang Gruhn, Geschäftsführer des Verbandes. Gerade bei Mängeln in zwei bis drei Fächern könne bei vielen Schülern das Wiederholen der Klassenstufe verhindert werden. Die Schulen bräuchten mehr Autonomie, um den Unterricht optimaler gestalten zu können. Der Schulleiterverband fordert neue Organisationsformen der Lehre: Bessere und freiere Unterrichtsbedingungen sowie neue Konzepte seien auf lange Sicht die kostengünstigere Alternative, so Gruhn.

Auch die Initiative „Humane Schule“ kämpft gegen die Ehrenrunde. „Wir haben in Deutschland traditionell eine Kultur der Aussonderung und Abstufung“, sagt Detlef Träbert, Sprecher der Initiative. Wer nicht ins System passe, werde durchgereicht, im Zweifel sogar auf die niedrigste Schulform. Dies schade dem Schüler und dem Klima in den Nachfolgeklassen. Träbert fordert mehr Lernberatung für Schüler und diagnostische Fortbildung für Lehrer: „Sonst bleiben viele Wiederholer ein oder zwei Jahre später erneut sitzen, weil sie nicht gelernt haben, anders zu arbeiten.“ Allein durch geschulte Lehrer könne die Sitzenbleiber-Quote drastisch gesenkt werden.