Senioren werden reich gerechnet

Die Landesregierung erwartet 100.000 neue Jobs durch Dienstleistungen für Senioren und setzt dabei auf eine neue Studie. Verbände und Gewerkschaften bezweifeln den Reichtum der Alten und fordern mehr direkte Fördermaßnahmen

VON SALVIO INCORVAIA

Mehr Senioren bedeuten mehr Arbeitsplätze – statt Kohle, Stahl und Chemie sollen bald Pflege-, Gesundheits- und Altendienstleistungen die neuen Massenjobs in NRW stellen. Dies hofft zumindest die rotgrüne Landesregierung und rührt die Werbetrommel für ihre ‚Landesinitiative Seniorenwirtschaft‘. Dabei stößt sie auf zunehmende Kritik. Verbände und Gewerkschaften fordern konkrete Fördermaßnahmen.

„Die Landesregierung handelt widersprüchlich. Einerseits wirbt sie für neue Arbeitsplätze im Seniorenbereich, andererseits wird die Ausbildung und Umschulung im Altenpflegebereich gekürzt“, sagt Holger Knörr, Geschäftsführer des Bundesverbandes der Altenpfleger. Wenn die Regierung auf diesen Bereich setze, müsse sie zunächst viel investieren. Nach Ansicht des Verbandes rollt eher eine Kostenwelle auf die öffentlichen Kassen zu, der bald Rechnung getragen werden müsse: „Wir sehen hier keinen neuen, prosperierenden Wirtschaftsmarkt“, so Knörr. Die Überalterung sei gerade in NRW eher ein finanzielles Problem.

Das Land ist von der demographischen Entwicklung besonders betroffen. Die niedrige Geburtenrate und die Abwanderung qualifizierter Arbeitnehmer aus dem ehemaligen Kohle- und Montanstandort Ruhrgebiet verschärfen den bundesweiten Trend zur Überalterung. Trotzdem glaubt die Landesregierung an die Chance einer neuen Seniorenwirtschaft mit rund 100.000 Arbeitsplätzen in den nächsten zehn Jahren. So sagt Landesgesundheitsministerin Birgit Fischer (SPD): „Ältere Menschen wollen nicht mehr verzichten, sondern sich etwas gönnen.“ Dies sei eine Riesen-Chance für die Wirtschaft, wenn sie bei Produkten und Dienstleistungen ältere Menschen als anspruchsvolle Kunden ernst nehme. “Die heutigen und zukünftigen Senioren bilden die reichste Generation aller Zeiten und verfügen über ein gutes Auskommen“, sagt Michael Cirkel von der „Landesinitiative Seniorenwirtschaft“. Speziell auf Senioren abgestimmte Produkte und Dienstleistungen müssten daher weiter entwickelt werden. So könne ein Beschäftigungsboom entstehen. Die Hoffnungen der Landesregierung stützen sich dabei auf eine Studie des Gelsenkirchener Instituts für Arbeit und Technik (IAT) und der Forschungsgesellschaft für Gerontologie (FFG) in Dortmund. Demnach sollen Ältere einen durchschnittlichen Betrag von 1.493 Euro im Monat zur Verfügung haben. Zusätzlich verfügen 87 Prozent aller Haushalte über Barvermögen von 12.000 bis mehr als 51.000 Euro. Laut Studie beschert der Seniorenzuwachs dem Land einen enormen Beschäftigungszuwachs in den Bereichen Soziales, Kultur und Wohnen.

Entsprechend enthusiastisch geben sich die Verfasser der Studie: „In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren können bei einer gelungenen Wirtschaftspolitik sogar bundesweit mehr als 900.000 neue Arbeitsplätze entstehen, die meisten davon im Dienstleistungssektor“, sagt Josef Hilbert, IAT-Forschungsdirektor für Gesundheitswirtschaft. Schon in den vergangenen drei Jahren seien in NRW 17.300 Arbeitsplätze in Seniorenbereichen geschaffen worden. Allein im Gesundheitsbereich könnten in NRW bis zu 200.000 Arbeitsplätze in den nächsten 15 Jahren entstehen, bundesweit sogar bis zu 450.000.

Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) in NRW hält die Studie für unseriös: „Die Statistik besitzt gravierende Fehler. Nicht individuelle Einkommen, sondern Haushalte sind untersucht worden“, sagt Wilbert Gregor, Abteilungsleiter für Senioren in NRW. Zudem seien Fixkosten wie Miete und Grundbedürfnisse in den Berechnungen zu wenig hinzu gezogen worden. Die Ergebnisse wichen signifikant von anderen offiziellen Statistiken ab. Nach Ansicht von Verdi ist noch völlig unklar, wie kapitalkräftig die neue Seniorengeneration wirklich sein wird. Ebenso sei die Auswirkung der Renten- und Sozialreformen auf das Konsumverhalten nicht ausreichend berücksichtigt worden. Solche Einschnitte und steigende Lebenshaltungskosten könnten sogar die Altersarmut enorm steigen lassen. Gregor sagt: „Die Landesregierung stützt sich auf eine Prognose, die uns sehr waghalsig erscheint.“ Sie solle nicht auf einen vermeintlichen Wirtschaftsboom hoffen und informieren, sondern direkt mehr Arbeitsplätze und Ausbildung fördern.

Dies fordern auch die freien Wohlfahrtsverbände: Gertrud Löhken-Mehring, Altenpflegeexpertin des „Arbeitskreises der Freien Wohlfahrtsverbände in NRW“, sagt: „Alle Altenpflegeeinrichtungen müssen frei konkurrieren und stehen dabei unter enormem Preisdruck. Solche Träger, die viel ausbilden, haben mehr Kosten und müssen diese auf ihre Pflegepreise umlegen.“ Die Landesregierung solle dafür sorgen, dass das alte Umlagesystem zur Sicherung der Altenpflegerausbildung wieder eingeführt werde.