Frau Lehmann


aus Berlin NADJA KLINGER

Frau Lehmann raucht Cliff. Kurz bevor der Filter von der Glut gefressen wird, steckt sie die Zigarette kopfüber oben auf den Kerzenständer. Wo bei anderen Menschen ein Lichtlein flackert, erstickt bei Sabine Lehmann alle zehn Minuten eine Kippe.

Cliff ist die billigste Marke. Zumindest die billigste beim vietnamesischen Lebensmittelhändler nebenan. Frau Lehmann kauft dort Zigaretten, weil sie oft Nachschub braucht. Sie huscht rüber und wieder zurück in ihren Blumenladen, wo sie von früh bis abends ausharrt, samstags bis eins, sonntags bis elf. Der Laden ist ihr Leben. Das Leben läuft nicht so gut. Seit es den Euro gibt, sagt Frau Lehmann. Sie hat kaum Kundschaft, sie hat kaum Geld. Sie wartet, dass das Glück bei ihr vorbeikommt. Sie kann nicht mal etwas anderes tun als warten, denn dazu müsste sie für ein paar Tage schließen, und dann hätte sie noch weniger Geld als kaum Geld. Also sitzt sie im Hinterzimmer, in einem Sessel am Fenster zum Hof. Vor Wochen ist ihr durch dieses Fenster eine Meise zugeflogen. Sie blieb ein paar Tage. Frau Lehmann hat Fotos in ein Album gesteckt: Da sitzt der Vogel auf dem Schrank, auf ihrer Hand, auf ihrer Schulter und auf ihrem Kopf. Frau Lehmann hingegen sitzt immer nur im Sessel. Sie strahlt. Auf den Bildern und während sie im Album blättert. „Das war ein schöner Sommer“, sagt sie.

Cliff ist englisch und heißt Klippe. Frau Lehmann spricht kein Englisch. Wozu auch, wenn sie nicht wegkommt. „Mein Schatzi ist arbeitslos. Er lässt sich jetzt zum Ihteh-Kaufmann umschulen“, sagt sie. Sie sagt nicht Eitieh. Sie spricht nicht zwei Buchstaben kompliziert aus, wo schon die einfachen Dinge kaum zu verstehen sind: wie Blumen zum Luxus werden konnten, zum Beispiel, sodass keiner mehr welche für sich selbst nimmt und die Leute am liebsten einzelne Blüten verschenken. „Früher haben die Männer am Wochenende ihren Frauen Sträuße gekauft“, sagt Frau Lehmann. Heute merkt sie gar nicht, ob die Woche anfängt oder endet. Jeder Tag ist gleich. Geht der Türgong, will sie jubeln. Dabei weiß sie ja noch gar nicht, ob der Kunde irgendwas kauft. Sie hat ein Kartengerät. Es kostet 22 Euro Miete im Monat, und von jeder Einnahme zieht die Bank zwei Prozent ab. Rein rechnerisch macht das Kartengerät keinen Sinn. Es funktioniert so hinterhältig wie ein Dispokredit. Es passt prima in Frau Lehmanns Blumenladen-Leben: Um unter aller Würde weiterwurschteln zu können, zahlt sie noch drauf. „Wenn der Kunde erst mal zur Bank geht, um Bares zu holen, dann sehe ich den nie …“, sagt sie.

Der Satz bricht ab, weil ein Mann 15 langstielige Rosen bestellt. „Oh.“ Frau Lehmann blickt ungläubig. „Super!“, ruft sie dann.

Frau Rosenberg oder Konkurs

Anders als auf den Sommerfotos trägt sie jetzt Pullover zu den Jeans und eine Jacke drüber. Es wird kalt, da hängen die Schnittblumen nicht so schnell durch. Dafür hängt Frau Lehmann durch. Das ist nicht ihre Art. Noch vor Monaten, da ging das Geschäft plötzlich besser, hat sie Jutta Rosenberg eingestellt. Die ist auch Mitte vierzig und war auf Arbeitslosenhilfe. Es war schön, jemanden zu haben. Frau Lehmann konnte was im Haushalt machen. Sie hat zu Hause ihren Schatzi, einen Sohn und drei Katzen. Auf die Tiere war immer Verlass. Sie brauchte sie nur anzusehen, und schon war sie glücklich. Selbst in den Wochen, da sie zusammen mit der Angestellten wieder nur auf Kundschaft wartete. Und auch jetzt, da sie zum Arbeitsamt gelaufen ist, um zu fragen, was sie mit Frau Rosenberg machen soll. Diesen Monat kriegt sie mein Geld, erklärte Frau Lehmann, aber nächsten Monat gehe ich dann in Konkurs. Sofort entlassen!, haben die vom Arbeitsamt gesagt. „Schade, Frau Rosenberg, was?“, ruft sie vom Hinterzimmer in den Laden. Frau Rosenberg guckt durch die Tür und nickt.

Eine Liebe fürs Leben

„Es ging immer hoch und runter“, sagt Frau Lehmann. „Erst war ich schön verheiratet. Dann kam die schreckliche Scheidung, da hab ich auch schon meinen Schatzi kennen gelernt, und der Junge kam zur Welt.“ Sie zündet das Feuerzeug. Sie sitzt an der Klippe und raucht. Die große Wanduhr schiebt die Zeiger. Wohin? Vor Frau Lehmann tut sich der Abgrund auf. Sie zahlt 1.350 Euro Ladenmiete. Sie nimmt 1.300 Euro weniger als im September letzten Jahres ein – damals waren es 1.700. Das hat Schatzi ausgerechnet, der macht die Finanzen. Sie beobachtet ihn, wie er sitzt und rechnet und imaginäre Summen hin- und herschiebt. Sieht, wie er zu der Erkenntnis kommt, dass er an den Dispokredit ihres gemeinsamen Privatkontos muss. Sie liebt ihren Schatzi. Sie ist mit ihm und den Kindern 1989 in den Westen abgehauen, sie haben in Nürnberg bei der Sparkasse gearbeitet, er hat eine Baufirma gegründet und deren Bankrott überstanden, sie einen schweren Verkehrsunfall. 20 Jahre sind sie zusammen, es ist eine Liebe fürs Leben. Aber das Leben funkt ihnen immer wieder dazwischen. „Gib den Scheiß auf!“, sagt Schatzi. Manchmal reden sie dann wochenlang nicht miteinander.

„Wenn’s mir wieder besser geht, hole ich Frau Rosenberg zurück“, sagt Frau Lehmann.

Vor sechs Jahren hat sie den Laden im Stadtteil Hohenschönhausen am Rande Berlins angemietet. Damals war hier Baustelle, ein Wohngebiet entstand, eine Ladenstraße mittendrin. Man hat Frau Lehmann eine Karte gezeigt, damit sie sich das vorstellen konnte. Sie konnte sich das gut vorstellen. Nur ging den Bauherren das Geld aus. Das Wohngebiet steht bloß zur Hälfte, und die Ladenstraße befindet sich nicht in der Mitte, sondern versackt im staubigen Brachland. Frau Lehmann hat zusammen mit dem Lotto-Laden hier angefangen und mit dem Friseur. Sie wurden alle übers Ohr gehauen. Der Lotto-Fritze ist von einer Instanz zur nächsten gelaufen. „Der kommt aus dem Westen“, sagt Frau Lehmann, „der weiß, wie man sich wehrt.“ Erreicht hat er nichts.

Nun sitzen sie täglich im Blumenladen und trinken schwarzen Kaffee. Es sind noch der Allianz-Fritze, der vietnamesische Lebensmittelhändler und Manuela vom Kosmetikstudio dazugekommen. Ihre Mietverträge laufen alle über fünf oder zehn Jahre. „Danach ist hier Leerstand“, sagt Frau Lehmann. Es klingt wie eine Drohung.

Dreimal pro Woche fährt sie zum Großmarkt. Sie holt so viele Blumen, wie sie verkauft. Der Transporter wird nicht mehr voll. Er ist noch nicht abbezahlt. Lange haben sie und Schatzi nach einem großen Auto gesucht, alle waren teuer, auch bei Volkswagen. Dann haben sie einen Tipp bekommen. Es ist irgendwie verrückt. Wenn Frau Lehmann jetzt durch ihr bescheidenes Leben fährt, hat sie einen Mercedesstern im Blick. Und es ist sogar ihr eigener.

„Es wird besser, Bine“, sagt Manuela vom Kosmetikladen. „Meinst du?“, fragt Frau Lehmann zurück. Da rattert es nebenan. Die Frauen springen auf. Ein Fleuropauftrag! Früher gab’s zehn am Tag: große, dekorative Sträuße waren das, Sträuße, bei denen die Leute nicht aufs Geld guckten. Frau Lehmann geht nachsehen. „Es kann nicht schlechter werden!“, ruft Manuela ihr hinterher. Frau Lehmann holt den Fleuropauftrag aus dem Drucker. „Was ist das?“, fragt sie. Dann fährt sie los und bringt eine einzige blaue Rose zum Empfänger.

Wenn sie samstags aus dem Laden kommt, dann fällt ihr Körper in den Mittagsschlaf. Sonntags auch. Vor ihrem Körper hat Frau Lehmann Respekt. Sie darf nicht krank werden. „Arbeitslosengeld bekomme ich nicht“, sagt sie, „und aufs Sozialamt kriegt mich keiner.“ Abends geht sie nicht mehr aus dem Haus. Zu Weihnachten hat sie ihrer Mutter eine Karte für „Cats“ geschenkt. Die Karte war teuer. Und wie das Leben so spielt, wird manchmal ein Mensch für seine Güte belohnt. Frau Lehmann bekam auch eine Karte für „Cats“, und zwar von ihrem Sohn. „Es war so schön“, sagt sie. Aber nach der Pause ist sie eingeschlafen.

Es regnete auf Ibiza

Seit sie den Laden hat, ist sie einmal mit Schatzi im Urlaub gewesen. Die Tochter hat nach Ibiza eingeladen. Sie ist Stewardess bei der Lufthansa und hat einen Piloten geheiratet. Auf dem Hochzeitsfoto steht die schneeweiße Braut unter Palmen. Ihre Schleppe liegt wie ein riesiges Spitzentuch über dem Strand von Rarotonga auf den Cook Islands. Die Tochter heißt jetzt nicht mehr Lehmann. Die Mutter braucht sich keine Sorgen mehr zu machen. Ihr Sohn will auch zur Lufthansa. Frau Lehmann ist das recht.

Auf Ibiza waren sie, als Frau Rosenberg in den Laden kam. Frau Lehmann hat nur gefroren. Es regnete und stürmte, es gab weder Heizungen noch richtige Bettdecken. Sie hat die Woche durchgehalten. „Ostern fahren wir immer an die Ostsee“, erzählt Frau Lehmann. Samstags um eins schließt sie den Laden. Nach fünf Stunden Autofahrt checken sie auf Rügen ein. Sie packen aus, dann ist der erste Tag gelaufen. Am Ostersonntag lässt sich Frau Lehmann vom Meeresrauschen verwöhnen. Am Montag müssen sie wieder zurück. „Das ist unsere große Reise“, sagt sie.

Frau Lehmann hat Fantasie. Sie legt Kataloge von Quelle, Neckermann, Bauer und Schwab zwischen ihren Blumen aus. Für zwei Euro nehmen die Kunden sie drei Tage mit nach Hause. Frau Lehmann hat auch eine Poststelle im Laden. Sie verkauft Marken, stempelt Briefe und stapelt Pakete, die von den Leuten an die Versandhäuser zurückgehen. Von der Post bekommt sie ein kleines Gehalt. Kunstblumen verkauft Frau Lehmann auch. Außerdem Kerzen, allerlei Schnickschnack, Schokolade und Wein. Vor Tagen hat ein Händler angerufen und ihr Rotwein aufgeschwatzt. Sie hat gesagt, sie wolle erst eine Angebotsliste sehen. Dann ist eine Lieferung und die Rechnung dazugekommen: die teuerste Flasche für 19 Euro. Frau Lehmann hätte noch draufschlagen müssen, damit für sie auch was geblieben wäre. Ein Wein so teuer wie drei schöne Sträuße. Sie hat keine Illusionen. Sie ist Floristin. Irgendwann blutet das Herz.

Als sie ausrastete

Irgendwann platzt auch mal der Kragen. Drei Männer sind in Frau Lehmanns Laden gestürzt. Einer hat sich vor den Hinterausgang geworfen, ein anderer den Eingang blockiert. Der dritte hat mit einem Ausweis gefuchtelt. Schwarzarbeiterkontrolle. Da ist sie ausgerastet. „Ich steh hier seit Jahren verloren rum! Was wollt ihr ausgerechnet bei mir?“

Im Sommer, als die Meise wieder weg war, wurden auch noch die drei Katzen krank. Zwei mussten operiert werden. Der Arzt meinte, er könne dies tun, das koste so und so viel. Jenes aber sei besser und teurer. Und das allerbeste … Frau Lehmann hat ihn unterbrochen. Sie sah ihr kleines bisschen Glück verloren gehen. „Schnell müssen sie machen, ganz schnell“, hat sie gesagt. „Ich bin gleich pleite.“