Bleiben statt gehen

Viel zu selten werden Asylgründe anerkannt. Ein Bleiberecht für abgelehnte Asylbewerber muss her

Wer glaubt, im Asylverfahren durchgefallene Menschen seien keine „echten“ Flüchtlinge, sondern elitäre Glücksritter, irrt

von ANDREA KOTHEN

Mit dreizehn Jahren erlebt Islam H. in Tschetschenien, wie sein Vater zwischen zwei Armeefahrzeuge gespannt und auseinandergerissen wird. Als junger Mann wird er von Soldaten zwei Tage lang in ein leeres 200-Liter-Benzinfass gesteckt. Sein Bruder kauft ihn frei und wird kurz darauf ermordet. Der Asylantrag von Islam H. wird abgelehnt. Begründung: „Der Antragsteller will nach zwei Tagen wieder freigelassen worden sein. Es ist offensichtlich, dass ein weiteres Zugriffsinteresse auf [ihn] seitens des russischen Militärs … nicht erkennbar ist.“

Was sagt uns das? Eine kalkuliert von der Flüchtlingslobby ausgewählte Betroffenheitsstory? Eine tragische, aber seltene Fehlentscheidung in unserem grundsätzlich großzügen Asylsystem? Weit gefehlt. Der Fall von H. dokumentiert die ganz normale Asylwirklichkeit in Deutschland.

Wer eine Anerkennung als Flüchtling erhalten will, muss hohe inhaltliche und formale Hürden überwinden. Im Laufe der Zeit hat die Rechtsprechung komplizierte und eng gefasste Kriterien dafür festgelegt, wann jemand als „politisch verfolgt“ anerkannt wird.

Eine Verfolgung gilt nur dann als „politisch“, wenn sie vom Staat ausgeht. Pech haben deshalb Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten, in denen es keine Staatsmacht mehr gibt oder die Gefahr von Rebellen ausgeht. Davon betroffen: Flüchtlinge aus Somalia, Liberia, Sri Lanka, Algerien, Afghanistan. Wie Frau S., deren Mann von den Taliban ermordet wurde. Das Gericht verneinte 1998 einen Asylanspruch, weil „die Chancen auf eine Beendigung dieser Bürgerkriegsauseinandersetzungen … außerhalb jeglicher realistischer Erwartung“ stünden.

Um anerkannt zu werden, muss eine Verfolgung bei einer Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Bei der „Gruppenverfolgung“ ethnischer oder religiöser Minderheiten spielt die Frage der „Verfolgungsdichte“ deshalb eine zentrale Rolle. Kosovo-Flüchtlinge wurden lange Zeit mit der Begründung abgelehnt, es gebe zwar Verfolgungsmaßnahmen gegen Albaner, jedoch sei die Wahrscheinlichkeit für Einzelne, ihr Opfer zu werden, nicht hoch genug. Unmittelbar vor dem Krieg 1999, vom deutschen Verteidigungsminister begründet mit der systematischen Vertreibung der Albaner, betrug die Anerkennungsquote jugoslawischer Flüchtlingen 1 Prozent.

Die Annahme einer „inländischen Fluchtalternative“ führt dazu, dass Asylanträge abgelehnt werden, auch wenn eine Verfolgung unbestritten ist. Tausende aus ihren osttürkischen Dörfern vertriebene Kurden wurden unter Hinweis auf die angebliche „Fluchtalternative“ Westtürkei abgelehnt. Im Fall der christlich-aramäischen Familie K. bezweifelte das Gericht zwar eine Existenzmöglichkeit in Istanbul. Aber Verwandte aus dem Ausland könnten das Überleben der zehnköpfigen Familie per Geldtransfer sichern. Viele irakische Kurden wurden – oft Jahre nach der Flucht – mit der Begründung abgelehnt, sie könnten in einem nordirakischen Flüchtlingslager Zuflucht suchen. Die Anerkennungsquote von irakischen Flüchtlingen sank 2002 von 67auf 13 Prozent.

In vielen Bescheiden kann man nachlesen, dass Verhöre, mehrtägige Inhaftierungen und Schläge „die Schwelle zu asylrelevanter Verfolgung nicht überschreiten“. Im Fall der 15-jährigen Äthiopierin Hanna S., die von fortwährenden Vergewaltigungen berichtet, stellt das Bundesamt fest, dass es sich zwar um einen schweren Verstoß gegen die Menschenwürde handeln könnte. „Vor solchen Gefährdungen sind aber leider Frauen in keinem Land der Erde sicher.“

Wer also glaubt, im Asylverfahren durchgefallene Menschen seien keine „echten“ Flüchtlinge, sondern elitäre Glücksritter, der irrt. Eine politische Korrektur der Anerkennungspraxis ist längst überfällig. Die Abschiebung derer, denen der offizielle Flüchtlingsstatus auf der Grundlage fragwürdiger und teils zynischer Kriterien vorenthalten wurde, und die hier inzwischen faktisch integriert sind, ist vor diesem Hintergrund inakzeptabel. Ein Bleiberecht für langjährig Geduldete ist die einzige humanitär und gesellschaftlich verantwortbare Lösung.

Andrea Kothen, 32, ist Referentin von Pro Asyl