Freund aller Durstigen

Er ist ein höchst dekorativer Baum und trägt kleine gelbe Früchte mit Bratapfelaroma, der Speierling – ein Rosenholzgewächs. In Deutschland gibt es nur noch dreitausend Bäume. Das soll sich auch mit Hilfe von Ihnen ändern

von HORST TAUBMANN

Mörike kannte ihn noch, diesen wundervollen Baum, und nannte ihn in einer launigen Notiz, den „urigen Freund der Durstigen“. Und er hat tatsächlich etwas mit unserem Durst zu tun, der Sperbel- oder Eschgriesbaum, alten Obstbauern auch als Speierling bekannt. Seine herben Früchte liefern einen vorzüglichen gerbsäurereichen Most, den man früher als geschmacksverbessernden Zusatz im Birnen- und Apfelmost sehr zu schätzen wusste.

Freilich ist der imposante Wildobstbaum, ein Rosenholzgewächs und Verwandter der Eberesche, den die Römer wie so manches andere Gute aus dem Süden mitgebracht hatten, aus unseren Streuobstwiesen fast verschwunden. Sorbus domestica, der Speierling, der große Vergessene, wird inzwischen von manchen Botanikern als „seltenster Baum Deutschlands“ auf der Roten Liste ganz oben geführt. So haben ihn besorgte Naturschutzverbände schon vor zehn Jahren zum Baum des Jahres gekürt, um auf den Gefährdeten aufmerksam zu machen.

Speierlinge waren im Mittelalter und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in bäuerlichen Baumgärten, in der Feldflur, aber auch in lichten Laubwäldern häufig anzutreffen. Ihre kleinen, mal apfel-, mal eher birnenförmigen Früchte, die wie bei der Eberesche in Dolden wachsen, lieferten ein begehrtes Obst, das vielfache Verwendung fand.

Karl der Große hat die Anpflanzung des Baumes in seiner Landgüterordnung ausdrücklich vorgeschrieben. Man nutzte die bakterizide Wirkung des säurereichen Mostes von nicht ganz reif geernteten Speierlingfrüchten, um Obstweine zu klären und zu stabilisieren. Auch gegen Ruhr, Durchfall und Erbrechen sollten die kleinen gelben Früchte helfen.

In der bäuerlichen Küche wurden voll ausgereifte Früchte zur Erntezeit im September zu Marmelade und Kompott verarbeitet, eine lebenswichtige Bereicherung in den obstarmen Winterzeiten. Und natürlich wusste man aus den reifen Früchten feine Obstwässer zu brennen. In manchen Gegenden Süddeutschlands sind diese Kenntnisse bis heute lebendig geblieben.

Noch zu Goethes Zeiten, im Jahre 1802, las man in einem „Handbuch über die Obstbaumzucht“ des Pfarrers J. L. Christ aus dem hessischen Kronberg: „Einen besonders vorzüglichen Äpfelwein machen die Speierlinge, wenn man nämlich drey Theil Äpfel und ein Theil Speierling zusammen keltert. Dieser wird an Farbe und Klarheit dem Rheinwein gleich und übrigens gut und stark. Ein Malter Speierling und zwei Malter Äpfel geben ein Ohm sehr vorzüglichen Cyder. Wegen diesem Vorzug ist der Baum hier auch häufig gepflanzet.“

Auf der Suche nach letzten Überlebenden dieser alten bodenständigen Obstkultur führt uns der Weg ins Hessische und in den Main-Tauber-Kreis, wo wir die letzten Rückzugsgebiete dieses wilden Obstbaums finden. Hier gibt es noch kleinere Speierlingbestände, sorgsam gepflegt von den Streuobstbauern. Sie liefern seit Generationen ihr Mostgut an zwei alte Landkeltereien, die das hessische Nationalgetränk, den regional-typischen Äppelwoi als einzige noch mit einem Zusatz Speierlingmost ausbauen – eine önologische Rarität.

Andere Spuren führen ins Württembergische und nach Südbaden. Eine Obstbauzeitung berichtete 1986 von einem unter Naturschutz stehenden zweihundertjährigen Speierlingoldie, der auf der Gemarkung Ölbronn im Enzkreis steht. Er sollte wegen seines Holzes gefällt werden, ist dann aber gerettet worden und trägt seitdem immer noch seine Früchte.

Letzte Sperbelbäume finden sich auch im Badischen bei Müllheim. Hier haben auf einem Streuobsthang in der Vorbergzone zwei einhundertfünfzigjährige Speierlingbäume die Zeiten überdauert, imposante Solitäre, die unverdrossen blühen und Frucht bringen. Ein Obstbauer aus Müllheim brannte aus dem seltenen Wildobst noch bis in die Neunzigerjahre einen aromatischen Sperbelschnaps, der sich in den Regalen bester Edelspirituosen sehen lassen konnte. Vorbei!

Was den Speierlingbäumen landauf, landab zum Verhängnis wurde, war die tolle Qualität ihres Holzes. Die dekorativen Bäume, die bis zu zwanzig Meter hoch wachsen, liefern ein besonders hartes Nutzholz, das sich zur Herstellung von Kelterpressen, Holzschrauben, Wagennaben und Radspeichen eignete. Auch Drechsler und Holzbildhauer waren scharf auf das Speierlingholz, welches das höchste spezifische Gewicht aller mitteleuropäischen Laubhölzer aufweist. So kam es, dass die Eschriese, der Sperbel, das Aeschrösle, die Schmerbirne, der Eschritzenbaum oder Speierling – der Volksmund kennt viele Namen für diesen schönen Baum – fast überall der Säge zum Opfer fiel.

Seitdem hat sich manches geändert. Mit dem Schub des erwachten ökologischen Bewusstseins werden nicht nur ferne Regenwälder, sondern auch heimische Bäume wieder stärker geschützt. Botaniker, Naturschützer und Gärtner setzen sich wieder für Neupflanzungen alter Obstsorten ein und versuchen die ausgeräumten Agrarlandschaften mit Wildgehölzen und markanten Einzelbäumen zu bereichern. Nachdem der Speierling 1993 zum Baum des Jahres ausgerufen wurde, kümmert man sich wieder um diesen schönen Wilden. Aber wie den Vergessenen und fast Ausgerotteten zu neuem Leben verhelfen? Hier standen Obstbaufachleute und Botaniker vor manchen Schwierigkeiten.

Um den Speierling vor dem Aussterben zu bewahren, genügt es nicht, die letzten überlebenden Altbäume unter Schutz zu stellen und an ihren Standorten auf die so genannte Naturverjüngung, also die natürliche Vermehrung durch Samen zu warten. Unter den veränderten Umweltbedingungen im 21. Jahrhundert kommen auf diese Weise kaum noch Jungbäume hoch.

So begannen in den vergangenen Jahren einige Baumschulen den Speierling gezielt zu vermehren, um das wertvolle Genmaterial zu retten. Nach anfänglichen Problemen in der Anzucht melden die Schulen jetzt erste Erfolge. Erstmals können fruchttragende Jungbäume angeboten werden, was ökologisch orientierte Obstbauern, aber auch manchen experimentierfreudigen Privatgärtner interessieren wird.

Der Rettung des Wildobstbaums hat sich vor allem der „Förderkreis Speierling“ verschrieben, der 1994 in Frankfurt am Main gegründet wurde (siehe Kasten). Hier fanden sich neben Forstleuten und Dendrologen bekannte hessische Apfelweinhersteller und Edelobstbrenner zusammen, die aus dem seltenen Wildobst feine Destillate herstellen. Auch einige Gastronomen machen mit, die mit dem Speierling Wildobstspezialitäten anbieten.

Und auch die Wissenschaft ist eingestiegen. In der renommierten Forschungsanstalt für Obstbau im hessischen Geisenheim finden unter professoraler Gaumenaufsicht jährlich eingehende Verkostungen von Speierlingsbränden statt, um die besten auszuwählen. Wenn der Natur- und Artenschutz so sinnlich und köstlich daherkommt, sollte es einem eigentlich um die Zukunft des Speierlings nicht bange sein. Gleichwohl sind auch die taz-Leser aufgerufen, ein Exemplar in ihren Garten zu setzen. Aber Obacht: Speierlinge lieben es ähnlich warm wie der Weinstock. Am besten gedeihen sie an kalkreichen, nicht zu feuchten Hanglagen.

Wer Kontakt suchen möchte: Förderkreis Speierling, Verlag Kausch, Liegnitzer Straße 17, 37120 Bovenden, wedig.kausch@t-online.de, Pflanzenanzucht Marion König, Hauptstraße 89, 66424 Homburg, speierling@t-online.de, Baumschule G. J. Steingässer, Fabrikstraße 15, 63897 Miltenberg am Main, Fon: (093 71) 50 60.

HORST TAUBMANN ist freier Journalist im badischen Gengenbach. Als zweites Standbein betreibt er als Ökobauer einen Weidehof mit Schafen und Gallowayrindern