Immer bis an die Grenze

Natali Seelig über den Zweifel der Jungfrau von Orléans, die sie ab heute im Thalia spielt

von Caroline Mansfeld

Äußerlich wirkt sie ruhig. Innerlich fühle sie sich wie ein Vulkan, sagt Natali Seelig und entzündet eine Zigarette nach der anderen: „Ich habe Hitzewallungen und schlafe kaum noch.“ Grund ist die Eröffnungspremiere am Hamburger Thalia Theater am heutigen Sonnabend. Dann steht Seelig in Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Schillers Jungfrau von Orléans auf der Bühne. Als gleich mehrere Jungfrauen. „Die Inszenierung ist eine Auseinandersetzung mit dem Stück“, erzählt die Schauspielerin. „Es funktioniert auf zwei Ebenen. Es gibt die Jungfrau von Schiller und eine moderne Frau, die ihre Geschichte in ihrem Kopf als Traum erlebt. Darin wird Johanna auch von anderen Schauspielern interpretiert.“

Sie wisse selbst nicht, wie viel davon sich dem Publikum vermitteln werde, bekennt Seelig. Denn das Dilemma liegt auf der Hand: Wie soll man diese romantische Tragödie aus dem Jahre 1801, die Geschichte von der tapferen Jungfrau, die von einer Heiligenerscheinung den Auftrag erhält, ihre französische Heimat gegen britische Eroberer zu verteidigen, in unsere heutige, komplett entzauberte Welt übersetzen?

Kriegenburg entscheidet sich für eine Spiegelung. Ein Gegenleben als Parallelhandlung. „Johanna ist ein einfaches Mädchen, das einen Auftrag bekommt und dadurch eine Klarheit für ihr Leben“, sagt Seelig. „Das Stück ist auch eine Auseinandersetzung mit Religion, die sie ja in Bedrängnis bringt. In dem Moment, wo sie der Liebe begegnet, ist es die Religion, die sie ihr verbietet. Das gehört zu der Packung Leben, die ihr unter dem Baum widerfahren ist. Eigentlich ist es wirklich brutal.“ Die gedankliche Brücke zum Fanatismus liegt nahe: „Wir haben Sehnsucht nach einer Heldenfigur. Gleichzeitig begreift Johanna, dass Gott ein blindes Werkzeug fordert, und beginnt zu zweifeln.“

Selbst religiös erzogen, musste auch Natali Seelig sich noch einmal neu mit ihrer spirituellen Seite auseinandersetzen. Im Gespräch an einem Ecktisch vor dem Thalia Theater hört man der 37-jährigen Tochter eines Tropenmediziners und einer balinesischen Ärztin, die in Ulm, Basel, Liverpool aufwuchs und drei Jahre in Hongkong verbrachte, gerne zu. Eine rare Gelegenheit, denn Seelig, die in der Spielzeit 2002/2003 zum Thalia-Ensemble stieß, wollte lange Zeit keine Interviews geben. Lieber erst einmal arbeiten. Schon galt die eher scheue Schauspielerin als schwierig.

Doch spätestens seit der vergangenen Spielzeit kennt sie jeder. Spielte sie zunächst größere Nebenrollen in Kriegenburgs Miss Sara Sampson oder Talkes Väter und Söhne, so landete sie in der letzten Spielzeit in gleich zwei Produktionen mit Armin Petras. In der Uraufführung von Fritz Katers We are Camera/Jasonmaterial zum Beispiel zeigte Natali Seelig in der Rolle der Mutter ihre ganze darstellerische Bandbreite. Und auch in Petras‘ Version von Gerhart Hauptmanns Die Ratten gelang es ihr, die tiefe Zerrissenheit der Kindsmörderin John schonungslos zu entblößen.

Mit Andreas Kriegenburg, ihrem Ehemann und Vater ihrer Tochter, erlebte sie 1998 in München mit Inszenierungen wie Dea Lohers Blaubart – Hoffnung der Frauen ihren Durchbruch: Sie wurde Schauspielerin des Jahres. „Ich dachte immer, dass ich nach dieser Auszeichnung aufhören müsste“, lacht Natali Seelig.

Neben der Arbeit mit Kriegenburg sind heute auch andere Begegnungen wichtig. Zum Beispiel die mit Armin Petras: „Er denkt und spielt auf so vielen Ebenen.“ Vor ein paar Jahren arbeitete Seelig nur mit Kriegenburg. Wenn überhaupt. Inzwischen hat sie sich geöffnet. „Bei Kriegenburg ist man immer bis an seine Grenzen gefordert. Aber er hat mein totales Vertrauen.“

Premiere: Sa 11. 9., 20 Uhr, Thalia Theater. Weitere Vorstellungen: 12., 16., 17., 20. 9.