Unsere letzte Banane

Die Westdeutschen erleben 15 Jahre nach der Wende ihren Kulturschock: Geplagt von Verlustängsten fordern sie westalgisch ihren Teilstaat BRD zurück. Und wollen deshalb auch die Mauer wieder

VON MARTIN REICHERT

Die bürgerliche Mitte hat endlich eine neue Heimat gefunden: Mit dem Slogan „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen! Außer uns“ will die Frankfurter Satirezeitschrift Titanic bei der nächsten Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen antreten, um für Tierschutz und Elitenförderung, vor allem aber für die endgültige Teilung des deutschen Vaterlandes zu kämpfen. Geplant ist laut Titanic-Chefredakteur Martin Sonneborn eine „bauliche Abtrennung“, die auch und vor allem mit einer finanziellen Abtrennung einhergehen soll. Die Partei namens „Die Partei“ will mit Hilfe eines erneuten Mauerbaus zudem jede Menge Arbeitsplätze schaffen.

Überhaupt nicht satirisch gemeint war eine Forsa-Repräsentativumfrage, die der Stern in Auftrag gegeben hat: In Westdeutschland will fast jeder Vierte die Mauer zurück! 24 Prozent der befragten Westdeutschen stimmten der Aussage „Es wäre besser, wenn die Mauer zwischen Ost und West noch stehen würde“ zu, und nur 41 Prozent waren mit dem „politischen System“ zufrieden. Was ist los mit den Westdeutschen?

Sie sind gestresst von jener Wende, die 1989 über Nacht, und der Wende, die nun schleichend in Form der Agenda 2010 über sie hereingebrochen ist. Sie haben ihr „System“ verloren, den real existierenden Sozialismus der alten Bundesrepublik, das System der Deutschland-AG, in dem die Früchte des gemeinsam erwirtschafteten Bruttosozialprodukts an alle gerecht umverteilt wurden.

Mit dem System Kohl verschwand das System BRD, die rot-grüne Folgeregierung hat den unverfälschten Kapitalismus eingeführt, dem westdeutschen Bürger wird nun plötzlich Eigenverantwortung abverlangt, während die bundesrepublikanischen Wärmstuben geschlossen werden: Die Wessis leiden unter einem „Kulturschock“, ähnlich jenem, den der Politologe Wolf Wagner dereinst den Ostdeutschen attestiert hatte: Sie sind gestresst wegen der geforderten Anpassungsleistungen, leiden unter Verlustängsten hinsichtlich Beruf, Status und Eigentum, sind verwirrt über die eigene Rolle, über Werte und die eigene Identität. Um diese negativen Gefühle zu kompensieren, bleibt ihnen nur die Flucht, nicht außer Landes, die Grenzen sind ja ohnehin offen, sondern in die Westalgie.

Mit ihren globalisierten Autos, die in ihrer Qualität längst nicht mehr an die Vorwende-Ware heranreichen, rumpeln sie über die Schlaglochpisten der alten Bundesländer, bleiben mit defekter Elektronik liegen und sehnen sich nach Dagmar Berghoff, die genauso vom abendlichen Bildschirm verschwunden ist wie dereinst Angelika Unterlauf, Chefnachrichtensprecherin der Ost-Tagesschau „Aktuelle Kamera“. Ihre alte Bundeshauptstadt Bonn wurde einfach platt gemacht, abgewickelt. Stattdessen pfeift jetzt der eiskalte Ostwind aus Berlin, das den Westen einfach annektiert hat und nun rheinischen Separatisten und südwestdeutschen Eigenbrötlern sagt, wo es langgeht.

Nun ziehen auch noch die Amerikaner ihre Truppen aus Westdeutschland ab. Man wird ihnen Tränen nachweinen, denn ihr Weggang erinnert noch einmal deutlich daran, dass Deutschland sich militärisch nicht mehr hinter ihrem breiten Kreuz verstecken kann, sondern sich auf einmal selbst genötigt sieht, weltweites sicherheitspolitisches Engagement zu zeigen – und in jeder Hinsicht erwachsen werden muss, auch was die eigene nationale Identität angeht.

Stattdessen sehnt man sich in den Teilstaat West zurück, träumt vom Nutella-satten Wohlstand der Achtzigerjahre, der eigentlich auch schon keiner mehr war, denn die jetzigen Probleme waren damals bereits strukturell angelegt. Und wer ist schuld an allem? Die Besserossis mit ihren schnieken Rennpisten, ihren subventionsgepäppelten Innenstädten und Arbeitsamt-gesponserten Flugreisen nach Mallorca. Die dann noch mit unmöglichen Klamotten jeden Montag auf der Straße rumrennen und „Wir sind das Volk“ in die Kameras nölen.

Was soll das dumme „Wir“-Gequatsche, denkt sich der Westdeutsche und verschanzt sich mit einem Glas Kühne-Gurken im Hobbykeller des klinkerverputzten Eigenheims, „es war doch nicht alles schlecht in der BRD“ grummelnd und „bei uns hatte wenigstens jeder einen Arbeitsplatz“.

Die Westdeutschen müssen sich erst einmal mit der „Entwertung des eigenen Lebens und der eigenen Chancen“ – ein ursprünglich auf die Ostdeutschen gemünztes Zitat des Hallenser Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz – auseinander setzen. Am Ende dieses langen Weges werden sie bekommen, was ihnen versprochen wurde: blühende Landschaften.