Im Schatten der Leuchttürme

„Ist die Orientierung an Mecklenburg-Vorpommern das, was wir wollen?“, fragt Vertriebsleiter Kaiser

AUS ZITTAU, DRESDEN UND FREITALBARBARA BOLLWAHN

Fünf riesige Funkwellen, sichtbar gemacht mit gelber Farbe, breiten sich über die gesamte Höhe eines dreistöckigen Gebäudes aus. Funkwellen flattern auf Fahnen im Wind und Funkwellen sind auf eine Mauer entlang des Firmengeländes gemalt. Sie illustrieren den dazugehörigen Spruch. „Transmission as a vision.“ Für „Übertragung als Vision“ steht die Zittauer Firma „digades“ im Landkreis Löbau-Zittau im Dreiländereck zu Tschechien und Polen, dem östlichsten Zipfel Sachsens.

Vor 13 Jahren kratzten drei sächsische Nachrichtentechniker ihr Geld zusammen und stürzten sich in die Marktwirtschaft, ohne zu wissen, wie sie funktioniert. Längst sind die Zeiten, als alle Mitarbeiter zusammen frühstückten, vorbei. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen einhundert Mitarbeiter. „Digades“ profitiert davon, dass in Autos und Gebäuden immer mehr Elektronik zu finden ist, und es sorgt dafür, diese aus der Ferne zu steuern. Das Betätigen von Garagentoren, das Ablesen von Stromzählern durch geschlossene Türen, die Kontrolle des Reifendrucks, das Regeln der Standheizung im Auto, das Bedienen von Telefon, CD, Fernseher in Luxuslimousinen von der Rückbank aus. Die von der Firma hergestellten elektronischen Komponenten finden sich bei allen großen Automobilherstellern, von BMW über Audi bis Porsche. Der Umsatz des Unternehmens betrug 2003 8 Millionen Euro. Für dieses Jahr werden 13 Millionen erwartet.

Das sind Peanuts im Vergleich zu den Großunternehmen, mit denen sich die sächsische Landesregierung unter dem gebürtigen Sauerländer Georg Milbradt (CDU) so gerne schmückt. Volkswagen hat in Chemnitz und Zwickau fast 2 Milliarden Euro investiert, BMW mehr als 1 Milliarde in Leipzig, und Porsche will dort 128 Millionen für ein Werk ausgeben. Das liebste Kind der Landesregierung ist jedoch die Mikroelektronik. Erst vor wenigen Tagen beschlossen Bund, Land und Industrie die Förderung eines neuen Instituts für Nanoelektronik in Dresden in dreistelliger Millionenhöhe. Ein neuer Leuchtturm der Chipindustrie, der die Vorwürfe über Unregelmäßigkeiten bei der Subvention des Chipunternehmens ZMD ein bisschen verblassen lässt, eine DDR-Firma, die die Wende überlebt hat und zum Synonym für den sächsischen Aufschwung geworden ist. ZMD soll Mitte der 90er-Jahre vom Land Sachsen 42 Millionen Mark als Förderung erhalten haben, die dann aber dem Verlustausgleich gedient hätten.

Hans-Ulrich Kaiser, Ingenieurökonom und Diplombetriebswirt, ist seit 1997 bei „digades“, mittlerweile in der Position des Vertriebsleiters. Er ist 49 Jahre alt, hat lustige Augen und angegraute Haare, die frech vom Mittelscheitel nach oben stehen. Klar, sagt er, ohne den Höchstsatz an Investitionsförderung hätten die neuen Produktionshallen nicht errichtet, die Maschinen nicht gekauft werden können. „Wir wären schön dumm, wenn wir die Förderung nicht in Anspruch nehmen würden“, sagt er und lacht. „Aber“, betont er, „wir planen unsere Entwicklungsprojekte so, dass wir alles allein zahlen könnten.“ Von den viel zitierten Leuchttürmen und dem „Wirtschaftswunderland“ Sachsen, das unter den neuen Bundesländern bei den Industrieinvestitionen an erster Stelle steht, hält Kaiser nicht allzu viel. „Ist die Orientierung an Mecklenburg-Vorpommern das, was wir wollen?“, fragt er und beantwortet die Frage selbst. „Das ist weiß Gott nicht das, was wir wollen.“ Kaiser schüttelt den Kopf. „Nur weil große Firmen kommen, wird gesagt, jetzt machen wir das Ergebnis zum Ziel und wollen eine Leuchtturmpolitik.“

Die 26.000 Einwohner zählende Stadt Zittau ist nur 110 Kilometer von Dresden entfernt. Doch das Leuchten der Türme der Chipindustrie erreicht sie nicht. An der Äußeren Weberstraße, dort, wo das „digades“-Gebäude steht und die Entwicklungsabteilung beherbergt, ist Schluss mit Visionen. Verwaist liegt gegenüber das Hotel „Stadt Rennburg“. Türen und Fenster sind mit Bohlen zugenagelt, die Klingel verrostet. Pappe und ein Vorhängeschloss vor der Diskothek „Enterprise“, geschlossen auch das Hotel „Volkshaus“, dazu ein Frisör, ein Solarium, ein Geschäft für den Ankauf von Briefmarken, ein Tattoo- und Piercing-Laden.

In dieser Trostlosigkeit liegt das ehemalige „Gustav Richter Antiquariat“, eine christliche Buchhandlung. Ein Schaufenster ziert ein riesiges „Zu vermieten“-Schild, ein anderes dokumentiert das Ende. „Am 31. 8. 2003 schließe ich mein Ladengeschäft. Ich möchte mich bei meiner Kundschaft bedanken, die mir jahrelang treu geblieben ist und die Freude an Büchern nicht verloren hat.“ Geschrieben hat den Abschiedsgruß Elisabeth W. Die Buchhändlerin und Bibliothekarin will ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen. Das ist ihr peinlich. Dabei hat die 54-Jährige getan, was sie konnte.

Bis zur Wende arbeitete sie im nahe gelegenen Löbau beim Buch- und Zeitschriftenvertrieb Berlin, der zur Nationalen Volksarmee gehörte. Im Mai 1990 wurde sie entlassen, wenig später übernahm sie die Buchhandlung. „Es herrschte die damals übliche Stimmung: Das wird schon toll“, erzählt sie lachend im verwilderten Garten ihres Bauernhauses in einem winzigen Dorf 40 Kilometer von Zittau entfernt, wo es statt Straßennamen nur Häusernummern gibt.

Als Grundlage für den Kaufpreis diente das erste Geschäftsjahr nach dem Mauerfall, das ein sehr gutes war. Elisabeth W., die rötlich gefärbten Haare streng zum Pferdeschwanz gebunden, auf der Nase eine dünnrandige eckige Brille, nahm einen Kredit auf und kaufte den kompletten Warenbestand im Wert von 96.000 Mark. Ihre Devise: „Wenn ich ehrlich bin und viel arbeite, schaffe ich das.“ Aber die Zukunft des Geschäfts hing nicht nur von ihr ab. Immer mehr Bewohner zogen weg, alte Leute starben, Geschäfte schlossen, die Arbeitslosigkeit stieg auf über 20 Prozent. Zum Schluss wurden Erwerbslose, die Umschläge und Briefmarken für Bewerbungen kauften, zu Stammkunden. Geblieben sind Elisabeth W. 30.000 Euro Schulden und eine Scheune voll mit Büchern bis unters Dach.

Elisabeth W. nimmt ihr Schicksal gelassen. „Ich bereue nichts“, sagt sie, zieht sich die Jacke über der Brust und lacht. „Es war eine schöne Zeit. Es hat viel Spaß mit den Kunden gemacht.“ Monat für Monat erfasst sie 500 bis 600 Bücher, um sie ins Internet zu stellen. Damit verdient sie an manchen Tagen fast so viel wie in den letzten Monaten in der Buchhandlung. Etwa einhundert Euro pro Tag. Elisabeth W. ist heilfroh, dass es ihrem Mann besser geht. Nachdem er vor einigen Jahren einen Bauchtumor hatte, wurde ihm kürzlich ein Hirntumor entfernt. Er hat den Eingriff überstanden und kann wieder stundenweise arbeiten.

Menschen wie Elisabeth W. dürften ganz nach dem Geschmack von Alexander Prinz von Sachsen sein. „Es nützt nichts, nur zu jammern“, sagt er in seinem kleinen Büro im Wirtschaftsministerium in Dresden. Prinz Alexander, wie er sich anreden lässt, ist der Sohn von Maria Anna Prinzessin von Sachsen, der Schwester des derzeitigen Chefs des ehemaligen sächsischen Königshauses Wettin. Nach seiner Berufung zum künftigen Chef des Hauses Wettin zog er 1997 nach Dresden und pendelte zwischen Sachsen und Mexiko, wo er eine Logistikfirma betreibt. Seit Januar 2003 hat er einen in Deutschland einzigartigen Posten. Der 51-jährige ist „Ansiedlungsbeauftragter“. Von seinem königlichen Namen und seinen Kontakten verspricht sich der Freistaat gewinnbringende Werbung weit über die Landesgrenzen hinaus.

Vorbild für den Posten des Prinzen ist Bayern. Dort gibt es seit fast sechs Jahren ein Ansiedlungsreferat. Während sich in Bayern 22 Mitarbeiter auf unbefristete Zeit um Investorenkontakte kümmern, soll der Prinz, ausgestattet mit einem Zweijahresvertrag, einem kleinen Büro, für das er Miete zahlen und ohne Mitarbeiter auskommen muss, Investoren aus Nord- und Südamerika, Japan und den alten Bundesländern heranholen. Der Prinz tut, was er kann. Mal spricht er von „wir Sachsen“, mal von „wir Mexikaner“, mal von „wir im Wirtschaftsministerium“. Er hat sächsische Stollen nach Mexiko geschickt, deutsch-russische Konsultationen nach Sachsen geholt, ein Kolloquium für mexikanische Künstler veranstaltet, Cocktailpartys und Oldtimerrallyes nutzt er als Kontaktbörse. Ende des Jahres läuft sein Vertrag aus und er hofft, dass die CDU die absolute Mehrheit behält und sein Vertrag verlängert wird.

Die CDU bedient sich gerne des königlichen Investorenköders. Der Ministerpräsident, mit dem er einmal im Monat zur Berichterstattung frühstückt, lässt sich schon mal von ihm vertreten. Und im Wahlkampf ist er ein gefragter Gast. So lud ein Mitglied des Sächsischen Landtages den Prinzen zur Besichtigung einer Papierfabrik in Freital ein. Der Prinz schnappt sich seine Haarbürste, lässt sie in einer Tasche verschwinden und fährt zum zweitgrößten Arbeitgeber der Stadt. Mit seinen feinen Lederschuhen macht er bei der Betriebsführung einen eleganten Bogen um jede Pfütze, während die sächsischen Unternehmer nur Augen für ihn haben. Auch wenn der Prinz Wörter wie „Tetrapack“ aus einem sächsischen Mund mit einem coolen „Okay“ quittiert, betont er immer wieder, den Sachsen das Gefühl vermitteln zu wollen, „einer von ihnen zu sein“.

Später, als er im Bierzelt einen Vortrag vor Unternehmern über die „sächsische Standortpolitik“ hält und stolz verkündet, dass die Wirtschaftswoche ihren Landesfürsten Milbradt zum Ministerpräsidenten des Jahrs gekürt hat, „stellvertretend für uns alle“, klatscht niemand. Beim Bieranstich, der ihm nicht gelingen wollte, stößt er auf mehr Verständnis. Doch das zarte Wildschweinfleisch verschmäht er – im Unterschied zu den wahren Sachsen. Prinz Alexander ist Vegetarier.