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Poesie der geladenen Pistole

Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt die Spaziergänge des belgischen Künstlers Francis Alýs durch Mexico City. Theatrale Inszenierungen im öffentlichen Raum

Folgendes Kunstwerk sei nicht zur Nachahmung empfohlen: Am 4. November 2000 betrat der belgische Aktionskünstler Francis Alýs ein Waffengeschäft in Mexico City. Er kaufte eine geladene Beretta-Pistole und ließ sich dann filmen, wie er damit – gut sichtbar – durch die Straßen der historischen Altstadt lief. Nach zwölf Minuten wurde er von der Polizei gestoppt. Auf dem Revier erläuterte Alýs, dass es sich bei dem Spaziergang um eine Kunstaktion handele und überredete die Polizisten, die Szene am nächsten Tag noch einmal für einen zweiten Film nachzuspielen.

Jetzt sind die beiden Streifen, zusammen mit vielen weiteren Werken des Künstlers, im Kunstmuseum Wolfsburg zu sehen. Dass Alýs die DVDs persönlich vorbeibringen konnte und nicht im mexikanischen Gefängnis einsitzt, verdankt er der Tatsache, dass er seine Pistolen-Promenade im eigenen Wohnviertel veranstaltete. Die mexikanischen Nachbarn kennen nach 19 Jahren Zusammenleben den knapp zwei Meter großen Belgier und seine merkwürdigen Ideen.

Tatsächlich basieren viele von Alýs künstlerischen Interventionen auf der Grundform des Spaziergangs durch Mexico City. „Walking Distance from the Studio“ heißt auch die Ausstellung des Künstlers in Wolfsburg.

Alýs erobert den öffentlichen Raum in einem Umkreis von zehn Häuserblocks um seine Wohn- und Arbeitsstätte. Wie im Laboratorium erforscht er das Areal, indem er es durch Interventionen künstlerisch bearbeitet.

Alýs ist eingreifender Akteur, kein beobachtender Flaneur. Er bleibt sensibel genug, um soziale und politische Probleme Mexikos in seine Arbeiten aufzunehmen. Abgebildet werden diese allerdings selten in dokumentarischer Form. Der Künstler setzt sie vielmehr in Handlungen um, die eine poetische, manchmal fast schon pittoreske Qualität haben.

Alýs schiebt etwa einen Eisblock so lange durch die Straßen, bis dieser geschmolzen ist. Man kann das problemlos als Hinweis auf die fliegenden Händler („ambulantes“) lesen, die überall in Mexico City ihre bescheidene Habe auf klapprigen Karren transportieren. Die Aktion wirft aber auch eine universell gültige Frage über den Sinn menschlichen Schaffens auf. „Sometimes Making Something Leads to Nothing“ ist das Video dazu lakonisch betitelt.

Weiterhin werden in Wolfsburg viele von Alýs Projekten und Interventionen vorgestellt, die durch die verschiedensten Medien dokumentiert werden: Fotos, Skizzen, Stadtpläne, Videos, Objektkunst und kleine surreale Malereien, die sich zwischen Magritte und „Tim & Struppi“-Comics einordnen.

Das Kunstmuseum zeigt eine spannende Ausstellung des Belgiers – und die erste große überhaupt in Deutschland. Dies wird nicht seine letzte sein. Erhielt der aufstrebende Künstler doch gerade Anfang dieses Monats in Berlin den höchstdotierten deutschen Kunstpreis.

Tim Ackermann

bis 28. 11., Di 11-20 Uhr, Mi-So 11-18 Uhr, www.kunstmuseum-wolfsburg.de

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