Die Helden der Heimatfront

Früher konnte jeder Depp Feuerwehrmann werden, sagt Tim. Heute seien die Tests schwieriger. Trotzdem ist der Andrang enorm

AUS WASHINGTONMICHAEL STRECK

Die Stimme aus der Zentrale meldet sich über den Lautsprecher. Auf dem kleinen Monitor blinkt in gelber Schrift der Ort des Notrufers. John C. Desautels lässt sich am Telefon noch rasch Einzelheiten geben, greift zum Mikrofon und befiehlt den Einsatz. „Wieder ein Anthraxfall“, sagt er etwas genervt. „Haben wir mittlerweile ein- bis zweimal am Tag.“

Desautels, ein großer stämmiger Mann mit der Figur eines Kugelstoßers, sitzt im kleinen Dispatcherraum der Feuerwehrwache „U Street Firehouse Truck CO. 9“ in Washington. Von hier aus, wenige Minuten nördlich des Weißen Hauses, koordiniert er die Einsätze seiner elf Feuerwehrmänner, sofern er nicht selbst hinter das Steuer eines Löschzugs oder an den Schlauch muss. Das Einsatzgebiet der Feuerwache umfasst weite Teile der Innenstadt, einschließlich Regierungs- und Botschaftsviertel. Eine Schicht dauert 24 Stunden. Danach hat er drei Tage frei.

Bis zum Herbst 2001 wusste Leutnant Desautels kaum was Milzbrand ist. Jetzt gehört Bioterrorismus zum Alltagsgeschäft. Jede weiße Substanz, die in den vergangenen drei Jahren einen Notruf auslöste, hat sich zwar letztlich entweder als Zucker, zerbröckelte Tabletten oder schlechter Scherz erwiesen. Meist ist sofort klar, dass es sich um einen falschen Alarm handelt, erzählt er, doch zweimal schien es, dass es tatsächlich einen erneuten Anschlag mit den tödlichen Sporen gegeben hatte. „Dann tropft dir der Schweiß.“

Über den Notruf „911“ wird Rauch aus einer nahe gelegenen Wohnung gemeldet. Der Leiterwagen rückt aus. Wenig später gibt es Entwarnung. Ein alter Mann hatte sein Essen auf dem Herd kochen gelassen, war eingeschlafen und der Rauchmelder begann zu schrillen. „Ein Klassiker, passiert rund fünfzehnmal am Tag“, sagt Desautels und lehnt sich entspannt zurück. Hinter ihm hängt ein großes Foto der drei Feuerwehrmänner, die auf den Trümmern des World Trade Center eine verschmutzte amerikanische Fahne hissen.

An diesem Tag, sagt Desautels – nicht pathetisch, sondern schlicht – habe sich für ihn alles geändert. Sein Beruf. Und seine politische Einstellung. Bis zu den Flugzeugattentaten und wenig später Milzbrandbriefen an Kongressabgeordnete war er einfach nur Feuerwehrmann, der in der Nachbarschaft Brände verhindert oder gelöscht hat. Jetzt sieht er sich an vorderster Front im Heimatschutz. Er brach auch mit der Familientradition, immer für die Demokraten zu stimmen und wurde über Nacht Republikaner. Dort glaubt er die Terrorabwehr in besseren Händen.

Eigentlich wollte der fünfzigjährige Desautels den Job bald an den Nagel hängen, um mehr Zeit für seine Frau und die drei Kinder zu haben. Doch die neuen obligatorischen Schulungen und Trainingsprogramme zu Bio- und Chemiewaffen, die in Zusammenarbeit mit der Bundespolizei FBI durchgeführt werden, sollen nicht umsonst gewesen sein, entschied er, und verlängerte seinen Dienst.

24 Jahre ist er jetzt bei der Feuerwehr, sechs davon in dieser Station. Noch nie hat er so eine üppige Finanzierung und Ausstattung gesehen. „Es ist das absolute Feuerwehrmannparadies.“ Drei von vier Trucks sind neu und wurden im letzten Jahr geliefert. Was auch immer er an Gerät und Material anfordert, bekommt er geliefert. Beantragt er zusätzliche Trainingseinheiten, auch kein Problem. Die Kritik der Demokraten, die Regierung habe die Gelder für den Katastrophenschutz gekürzt, hält er für „Unfug“. Und die Zeiten, als sein „Fire Department“ in den 90er-Jahren beim Kongress um Bundeshilfen betteln gehen musste, da die Stadtverwaltung pleite war, sind vorbei.

Sicher, räumt auch Desaultes ein, befindet sich Washington in einer komfortablen Situation. Der Schutz der Hauptstadt genießt Priorität, und die Herren Politiker wollen sich sicher fühlen. Zudem herrscht in seinem Zuständigkeitsgebiet mit kurzen Unterbrechungen „Code Orange“, die zweithöchste Alarmstufe. Das verschlingt Ressourcen, vor allem Personalkosten, da pro Schicht mehr Leute eingesetzt werden müssen.

Die staatlichen Wohltaten beschränken sich jedoch nur auf das „Kerngeschäft“ der Feuerwehrleute, also alles, was unmittelbar mit dem Einsatz zu tun hat. Für Küche, Kantine und Getränkeautomaten gibt es keinen Cent. Es wird aus der eigenen Tasche bezahlt und zusammengelegt. Ansonsten ist „Truck Co. 9“ auf die Spendenfreudigkeit der Bürger angewiesen. Doch die Solidarität kennt seit dem 11. September 2001 kaum Grenzen. Das Kaffeehaus Starbucks an der Ecke bringt jeden Tag nach Ladenschluss den übrig gebliebenen Kuchen. Die Muckibude gegenüber verschenkt ausrangierte Fitnessgeräte.

Die neuseeländische Botschaft renovierte jüngst und überließ ihnen eine fast komplette Kücheneinrichtung, in der Desaultes mindestens einmal die Woche nach Feierabend für seine Männer die Kochschürze umbindet. „Und wenn ich in der Kneipe erzähle, dass ich Feuerwehrmann bin, laden mich wildfremde Leute zum Bier ein. Früher bin ich eher milde belächelt worden“, sagt er.

Und so freut er sich am meisten darüber, dass sich das Image seines Berufsstands gewandelt hat. Gewandelt von einer Art Frühverrentung, als die Männer in den blauen Uniformen zumeist gelangweilt an ihren Wagen herumstanden, die silbern-roten Karossen blank putzten oder Karten spielten, hin zu einem sehr anständigen Job, sagt Desaultes bescheiden. Doch eigentlich sind sie die neuen Helden Amerikas, raue, muskulöse, dreckverschmierte Idole, die Kalenderseiten und Hochglanzmagazine füllen und auf die Türen von Kleiderspinden geklebt sind.

Vor den Anschlägen vom 11. September konnte jeder Depp Feuerwehrmann werden, sagt Tim, der jüngste im Team und noch größer als Desaultes. Heute seien die Tests schwieriger und die Ausbildung dauere länger. Trotzdem ist der Andrang enorm. Nachdem er seine dreijährige Ausbildung an der Akademie absolviert hatte, stand er sechs Monate für eine Stelle auf der Warteliste. Ohne zu zögern nahm er den Job hier an, obwohl er in Baltimore wohnt, eine Autostunde nördlich von Washington. „Meine Freundin klagt. Doch was soll ich machen? Es ist mein Traumberuf.“