Gewachsen aus Herzblut

Norbert Henke hat den Stralsunder HV von der DDR-Bezirksliga in die Handball-Bundesliga geführt. Dort soll der Verein die Sunderstädter als Zentrum Vorpommerns bekannt machen – und mit dem Vorurteil aufräumen, dass nachts die Russen kämen

aus Stralsund HOLGER SCHLEPER

Einen besonderen Platz in der Chronik Stralsunds nimmt die Belagerung der Stadt im Jahr 1628 ein. Der kaiserliche Feldherr Wallenstein biss sich mit seinem riesigen, sieggewohnten Heer die Zähne an der Hansestadt aus. Die Stadtgeschichte vermerkt dazu: „Die Kunde vom heldenhaften Abwehrkampf der kleinen Stadt hallte über ganz Europa.“

Auf die Neuzeit angewandt war Stralsunds übermächtiger Kontrahent am Samstag der deutsche Handball-Rekordmeister VfL Gummersbach. Als widerspenstiger Feldherr gab sich Norbert Henke, Trainer des Aufsteigers Stralsunder HV, vor dem Spiel traditionsbewusst kühn: „Ich wehre mich gegen die Auffassung, dass wir keine Chance haben. Es steht ein Vereinsname auf dem Rücken, für den es was zu tun gilt.“ Leider endete das Spiel mit 21:28, und Stralsund findet sich mit 2:12 Punkten weiterhin im Tabellenkeller wieder.

Das ist keine böse Überraschung; damit hatten sie in Stralsund vielmehr gerechnet. „Natürlich spielen wir gegen den Abstieg“, räumt Manager Thomas Haack freimütig ein. Die Mär vom kleinen, besonderen Underdog will der 39-Jährige aber nicht anstimmen. „Flensburg-Handewitt fing auch in einer kleinen Halle an“, verteidigt Haack die 1.047 Zuschauer fassende Vogelsanghalle, Heimspielort des Aufsteigers, die im Vergleich mit den Tempeln der benachbarten Konkurrenz, etwa der Kieler Ostseehalle oder der Color Line Arena in Hamburg, auffallend putzig wirkt. Der vom Manager gewählte Vergleich mit dem schleswig-holsteinischen Spitzenclub wiederum ist nicht zufällig, auch Haack hat Großes vor im Nordosten Deutschlands. Im blauen Anzug, farblich abgestimmt auf seinen PS-starken sportlichen Wagen, befindet sich der Manager gerne auf der Überholspur, gelenkt vom eingebauten Navigationssystem. „Der Aufstieg in die Bundesliga war ein kollektiver Orgasmus“, sagt Haack, der die euphorische Stimmung nutzen will in einer Stadt, die von 20 Prozent Arbeitslosigkeit geplagt wird.

Handball, so seine Vision, soll an der Spitze des Stadtmarketings stehen, um die Sunderstädter als Zentrum Vorpommerns zu etablieren. Dafür ist Haack stets erreichbar, das Handy klingelt im Zehn-Minuten-Takt – und bringt durchaus Positives. „Nach meinen Informationen ist es jetzt beschlossene Sache, dass wir eine neue Halle bauen“, verkündet das SPD-Mitglied der Stralsunder Bürgerschaft stolz.

Betritt man die Halle, weicht die Aufbruchstimmung schnell der Nüchternheit. Durch die zersplitterte Glastür am Eingang gelangt man in eine braun-weiß gestrichene Umkleidekabine, spärlich bestückt mit Holzbänken, dahinter liegt die eigentliche Halle, in der Trainer Norbert Henke mit strengem Ton das Training leitet. Seit 1986 betreut der 47-Jährige die Stralsunder, er hat mit dem Team den Weg aus der DDR-Bezirksliga in die Bundesliga gefunden. Mürrisch blickt der schnauzbärtige Coach, die derbe 22:41-Niederlage im letzten Heimspiel gegen Flensburg in der Festung Vogelsanghalle, die doch der Garant für den Erstligaverbleib sein soll, wirkt nach. „Es fällt schwer, das zu verarbeiten“, sagt Henke.

Sieben Neuzugänge hat der Trainer ins Team zu integrieren; mit 1,1 Millionen Euro steht Henke der zweitkleinste Etat der Liga zur Verfügung. Widrige Umstände sind das, doch der waschechte Stralsunder weiß solche zu nehmen. „Ich kann das zwar nicht, aber ich versuche es“, hatte er gesagt, als man ihn vor 17 Jahren bedrängt hatte, das Traineramt zu übernehmen, auch weil sich kein Besserer fand. Wenig bringt den Coach aus der Fassung, ungehalten wird er jedoch, wenn er sieht, wie sehr Vorbehalte gegenüber Ostdeutschland die Transferpolitik beeinflussen. „Viele denken, wir hätten kein elektrisches Licht und abends kommen die Russen. Ein Spieler sitzt lieber bei Wallau-Massenheim auf der Bank, als bei uns zu spielen“, redet sich Henke in Rage.

Dabei hat sein Verein einiges zu bieten. „Wir bekommen hier immer pünktlich unser Geld, was nicht jeder Bundesligaspieler behaupten kann“, sagt Stefan Strauch, der Mannschaftskapitän. Der 29-Jährige lobt zudem, dass der Club mit Herzblut und nicht mit „Kohle“ gewachsen sei. „Heutzutage ist das was Besonderes“, glaubt Strauch.

Seit letzten Sommer gehört Stralsunds Altstadt zum Welterbe. Dazu heißt es: „Welterbestätten zeichnen sich nicht nur durch ihre Einzigartigkeit aus, sie müssen auch geschützt werden.“ Wahre Worte.