Demokratie statt Konkurrenz

Mehr Wettbewerb zwischen den Bundesländern beendet nicht etwa die Föderalismus-Krise, sondern führt zur Verödung schwacher und zum Aufschwung starker Regionen

Eine Bundesrats-Demokratisierung könnte die Konstellation „CDU gegen SPD“ auflockern

Die Debatten über die Reform des föderativen Systems durchziehen einer Schleimspur gleich die deutsche Nachkriegsgeschichte. Durchschlagende Ergebnisse wurden nie erzielt. Erst jüngst nahm wieder eine Bund-Länder-Kommission (die wievielte eigentlich?) ihre Arbeit auf. Mit absehbarem Null-Resultat. Woran liegt’s? An den viel beklagten verkrusteten Verhältnissen? An wechselseitigen Blockaden? Oder daran, dass eigentlich kein Reformbedarf besteht?

Zumindest letztere Vermutung trifft nicht zu. Das Dilemma der deutschen bundesstaatlichen Ordnung lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Während die Bundesländer immer weniger selbstständig entscheiden können, hat sich das Vertretungsorgan der Landesregierungen, also der Bundesrat, zu einem zweiten Entscheidungszentrum entwickelt. Vorausgesetzt, die jeweilige Opposition beherrscht dieses Gremium – was seit der späten Kohl-Kanzlerschaft der Fall ist –, kann sie jeder Regierung in den Arm fallen.

Die ausufernden Mitwirkungs- und Einspruchsrechte sind der Preis für die Entmachtung der Länder. Diese hat ihre Ursache in der Ausdehnung der Bundeskompetenzen seit den Siebzigerjahren. Für diese Tendenz hat sich ein beschönigender Begriff eingebürgert: „kooperativer Föderalismus“. Hiergegen läuft in den letzten Jahren eine Opposition Sturm, die an die Stelle von Kooperation „Trennung“ und an die von Ausgleich „Wettbewerb“ setzen möchte.

Ungefähr gleichartige Lebensverhältnisse in Deutschland zu sichern, ist bis jetzt verfassungsgemäße Aufgabe des Bundes. Dem dienen horizontal der Finanzausgleich zwischen den Ländern und vertikal das System der Bundeszuweisungen. Die Opposition mit der bayerischen Regierung als Rammbock will dieses System zurückfahren. Mehr Kompetenzen für die Länder, Neuaufteilung der Steuern. Die Steuertrennung à la USA ist das Fernziel. Der gegenwärtige Rechtszustand, so die Konservativen, würde die Starken strafen und die Schwachen an eigenen Anstrengungen hindern.

Wettbewerb heißt zuerst Standortkonkurrenz. Zu Ende gedacht würde Wettbewerbsföderalismus zur weiteren Verödung der schwachen und zum weiteren Aufschwung der ohnehin starken Regionen führen. Denn das Steueraufkommen der Starken könnte dann für eine gezielte Investitionspolitik eingesetzt werden, während den Schwachen nur der Bau von Altersheimen bliebe.

Ein hässliches Ergebnis. Könnte die Reform des Föderalismus ein besseres zutage fördern? Wer heute von Föderalismus redet, tut gut daran, die geschichtlichen Grundlagen nicht allzu sehr zu bemühen. Deutschland setzt sich nicht aus „Stämmen“ zusammen, wie es noch in der Weimarer Verfassung und in den Anfängen des bundesrepublikanischen Verfassungsdiskurses hieß. Was Durchmischung anlangt, bildet das Land der Arier die europäische Spitze. Auf eine kontinuierliche Territorialgeschichte können nur wenige der Bundesländer zurückblicken. Und oft beruht diese Kontinuität auf historischen Fiktionen wie beim schleswig-holsteinischen „up ewig ungedeelt“. Oder sie verdankt sich, wie im Fall Bayerns, einer nach rückwärts projizierten großen Erzählung von der weißblauen Einheit.

Tradition war, so wissen wir heute, im Wesentlichen das Werk der Schulmeister. An deren Stelle sind heute die Identitätskonstrukteure in den Staatskanzleien und Medien getreten. Stärker als die Untersuchung des „organisch Gewachsenen“ bei den Bundesländern erweckt daher der Erfolg des „künstlich Gemachten“ Interesse. Wer hätte gedacht, dass hybride Nachkriegsprodukte wie Rheinland-Pfalz oder NRW sich als robuste Konstruktionen entpuppen würden – auch im Bewusstsein der jeweiligen Landeskinder?

Letztere Einsicht ist besonders bemerkenswert, denn lange galt es als Gemeinplatz, dass die Identitätssehnsüchte der Deutschen in der alten Bundesrepublik sich fast ausschließlich auf Städte und Landschaften, mithin auf „Heimat“, richteten. Gerade das Beispiel NRW lehrt, wie das „Gemachte“ zur zweiten Natur wurde. Wir beobachten hier einen sozialen Prozess, der eng mit der sozialdemokratischen Hegemonie seit Ende der Sechzigerjahre zusammenhängt.

Die Steuerungsfunktion der Kommunalverbände, die interkonfessionelle Bindungskraft der Einheitsgewerkschaft, die enge Verflechtung von Wirtschaftsunternehmen, Gewerkschaften und politischen Eliten, die Kooperation der beiden großen politischen Parteien unterhalb der Landesebene (vulgo: „Filz“) – all diese Faktoren trugen dazu bei, die industrielle Umwälzung vom Land der Schwerindustrie und der Großunternehmen zu einer vielfältig gegliederten Dienstleistungslandschaft ins Werk zu setzen. Um eine Anleihe bei dem USA-Soziologen Lockwood zu machen: Identität wurde erzeugt im doppelten Prozess der Sozialintegration (bezogen auf die heterogene Bevölkerung) und der Systemintegration (bezogen auf die heterogene Struktur des Landes). Eine Identitätsarbeit, die „von oben“ und „von unten“ ins Werk gesetzt wurde.

Im Freistaat Bayern verdankt sich die doppelte Integrationsleistung ebenfalls einer hegemonialen Partei, der CSU. Die Umwandlung Bayerns von einem Agrar- zu einem modernen Industriestaat samt der Meisterung der mit ihr einhergehenden sozialen Erschütterungen ist im Wesentlichen das Werk dieser Partei. Deshalb gilt in Bayern schon seit den Sechzigern: „The winner takes it all.“ Tatsächlich stehen wir staunend vor der Effektivität einer hochmodernen, zentralisierten, alle Klassen und Schichten durchdringenden Einheitspartei, die alle historischen Partikularismen aufgesogen und – erstmals in der bayerischen Geschichte – in eine einheitliche Vorstellung bayerischer Identität integriert hat. Von solchem Erfolg konnten die DDR-Einheitssozialisten nur träumen.

Eine Opposition, die den Bundesrat beherrscht, kann jeder Regierung in den Arm fallen

Aber: All dies setzte finanzielle Mittel voraus, die heute fehlen. Die materielle Basis wankt, aber der Überbau („Wir in Bayern“, „Wir in NRW“) hält sich zäh. Das Phänomen war bereits Marx bekannt und zeigt sich – mit einigen Varianten – auch in den anderen Bundesländern. Ein Ausweg aus der Krise bestünde im konservativen Wettbewerbsföderalismus – mit der Folge sozialer Zerklüftung. Ein zweiter wäre das mögliche Resultat einer Demokratisierung des föderativen Systems. Hierdurch würde zumindest die Chance eröffnet, dass der festgetretene Kampfboden CDU-Block der Reichen gegen SPD-Block der Armen gelockert werden könnte.

Entscheidend ist hierfür eine Parlamentarisierung des Bundesrats. An die Stelle des Exekutivorgans müssten (direkt oder indirekt) gewählte Vertreter der Bundesländer treten. Damit wäre diesem Monstrum Bundesrat, das aus der autoritären deutschen Verfassungsgeschichte in unsere Zeit herüberragt, endlich der Garaus gemacht. Und im besten Fall könnten sich neue Koalitionen der Ländervertreter bilden, die tatsächlich in Wettbewerb treten: über eine zeitgemäße Form der Sozialintegration.

CHRISTIAN SEMLER