Ziviler Fortschritt statt „großer Abschreckung“

Egon Bahr verteidigt in einem glänzend durchdachten Essay den „deutschen Weg“ von Gerhard Schröder. Dass es sich dabei eigentlich um einen „europäischen Weg“ handelt, übergeht Bahr großzügig. Klar ist für ihn vor allem eines: Europa und die USA verfügen nicht mehr über die gleichen Werte

von RUDOLF WALTHER

Als Gerhard Schröder im Wahlkampf vor einem Jahr plötzlich die Parole vom „deutschen Weg“ aus dem Zylinder zauberte, war die Verwirrung groß. Das Spießertum sprach gleich von „Antiamerikanismus“ und der Spätwilhelminismus reklamierte den „deutschen Weg“ als „das Gemeinsame des deutschen Volkes“ (Georg Paul Hefty, FAZ, 7. 8. 2002), über das ein Sozi nicht allein verfügen könne. Zumindest missverständlich war Schröders Parole schon, denn außenpolitisch ging es ihm um eine gemeinsame europäische Front wider den amerikanischen Unilateralismus, wider das Konzept des Präventivkriegs gegen Schurkenstaaten. Innenpolitisch wollte er den Erhalt und den Ausbau des Rechts- und Sozialstaats nach europäischen Standards.

Dieses Konzept auf eine solide Basis zu stellen, ist Egon Bahrs Anliegen in seinem neuen Buch „Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal“ – obwohl der Ausdruck deutscher Weg „abschreckend“ wirke und „fatale Erinnerungen“ an Bismarck, Wilhelm II. und Hitler wecke. Es bleibt Bahrs Geheimnis, warum er auf über 150 Seiten kluge und überzeugende Argumente für einen selbstbewusst gewählten europäischen Weg gegen die Hegemonie- und Dominanzansprüche der US-amerikanischen Regierung zusammenträgt, aber trotzig am Wort „deutscher Weg“ festhält. Das ist jedoch – vom etwas laxen Umgang mit der vermeintlichen „Normalität“ von Nationen und Nationalbewusstsein abgesehen – der einzige größere Einwand gegenüber Bahrs Buch: falscher Titel für eine richtige Strategie.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es den USA und den europäischen Nachbarstaaten in ihrer Deutschlandpolitik immer um zweierlei: Die Bundesrepublik sollte in den Westen eingebunden und die Machtansprüche der Sowjetunion und der ihr vorgelagerten DDR sollten eingedämmt werden. Diese „doppelte Eindämmung“ bestimmte allerdings nicht nur die Sicherheitspolitik der USA, sondern auch die der Nato und insbesondere Frankreichs. Von dessen Kulturminister André Malraux stammt bekanntlich das Bonmot, er liebe „Deutschland so sehr, dass er es zweimal haben möchte“.

Aber schon die Ost- und Entspannungspolitik der sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt und Walter Scheel – in der Bahr als Staatssekretär und Minister für besondere Aufgaben eine herausragende Rolle spielte – verschaffte Bewegungsräume für eine autonome Politik. Brandt und Scheel bewiesen eindrücklich, dass die Bundesrepublik trotz ihrer militärischen Schwäche und ihrer beschränkten Souveränität willens und in der Lage war, an der gefährlichen Grenze quer durch Europa wirksam für Entspannung zu sorgen. Beleg dafür waren die Verträge mit der Sowjetunion, Polen und der DDR. Die USA ließen die Deutschen hier gewähren.

Der gewonnene Spielraum änderte jedoch nichts daran, dass die USA den Atom- und Abschreckungsschirm über Europa in der Hand hielten. Sicherheitspolitisch blieb der alte Kontinent ein „Protektorat“ der Vereinigten Staaten, so Jimmy Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski. Seit 1989/90 haben sich die Verhältnisse jedoch grundlegend geändert. Die USA sind „die erste und einzige Globalmacht“ und verhalten sich entsprechend. Folgte die alte Abschreckung dem Prinzip der Selbstbindung („wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter“), so verfolgt die „große Abschreckung“ (Paul Wolfowitz) der Bush-Regierung das Ziel „unbegrenzter Überlegenheit“. Mittlerweile reicht den Vereinigten Staaten der Verdacht, ein Land entwickle Massenvernichtungsmittel, um einen Präventivkrieg zu beginnen. Die UN-Charta, die UN-Institutionen und das geltende Völkerrecht interessieren derzeit in Washington keinen.

Gegen die Strategie der „großen Abschreckung“ plädiert Egon Bahr für eine des „zivilen Fortschritts“ und stellt die EU-Staaten vor eine Alternative. Sie können sich als Kohorte von Willigen hinter den Sicherheitsinteressen der USA versammeln, oder sie können eine von diesen unabhängige und eigenständige Politik verfolgen – nicht in Feindschaft, wohl aber in Gegnerschaft zu den USA. Bahr bringt das auf die griffige Formel vom Gegensatz zwischen US-willigen und UN-willigen Staaten. Europäische „Selbstbestimmung“ versteht Bahr nicht primär als ein militärisches Problem, obwohl er einräumt, dass die EU als autonome Macht ohne eine gemeinsame Armee nicht denkbar ist. Die europäische Selbstbestimmung bliebe „unterhalb der interkontinentalen Atomwaffen“ und wäre insofern keine militärische Gefahr für die USA. Vielmehr ginge es in der EU darum, aus der militärischen Schwäche durch eine Politik der Gewaltprävention und des Gewaltverzichts eine politische Stärke zu machen: „Das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts zu ersetzen, ist der Königsweg.“

Derlei Konzepte belegt der „gesunde Menschenverstand“, der so wenig gesund ist wie die „Realpolitik“ realistisch, mit dem wohlfeilen Stempel „Antiamerikanismus“ und hält die Frage damit für erledigt. Der Vorwurf des „Antiamerikanismus“ unterstellt ganz naiv einen Europa und den USA gemeinsamen Bestand von Werten, der längst abhanden gekommen ist. Bei den Themen Todesstrafe, Menschenrechte oder der Reichweite der internationalen Strafgerichtsbarkeit liegen zwischen den USA und Europa ebenso Welten wie bei der Frage nach der noch zulässigen Durchmischung von Religion und Politik oder Wirtschaft und Politik.

Bahr redet nicht der Konfrontation der EU mit den USA das Wort, sondern denkt eher an eine Arbeitsteilung zwischen den USA und der EU. Die USA vertrauen fast ausschließlich auf ihre militärische Stärke, während die EU auf die Entwicklung ihrer Wirtschaftskraft und „präventive Diplomatie“ setzt, ohne auf „europäische Streitkräfte“ für jene Fälle zu verzichten, die anders nicht zu lösen sind.

Egon Bahr: „Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal“. Verlag Karl Blessing, München 2003, 160 Seiten, 12 €