Warte, bis es dunkel wird

Schluss mit der Spielzimmerbehaglichkeit: Antje Wagner zeigt in ihrem Erzählband „Mottenlicht“, dass die Monster nicht unter dem Bett sind, sondern längst in unseren Köpfen

Man kann Antje Wagner nicht vorwerfen, dass sie es sich bequem macht in der Spielzimmerbehaglichkeit, in der so viele junge deutsche Autoren um den ersten Platz in angewandter Harmlosigkeit wettschreiben. Die Zahl und Tiefe der Psychosen, die sie auf die wenigen Seiten ihres Erzählungsbandes „Mottenlicht“ presst, ist durchaus beeindruckend. Da ist die junge Mutter, die eine versuchte Abtreibung durch Treppensturz mit einem verunstalteten Kind bezahlt; das eingeschneite Ehepaar, dessen Zweisamkeit nur in die Gewalt führt; oder der Mann, der den Niedergang seiner Beziehung dadurch kompensiert, dass er eine andere zerstört. Und vor allem sind da Kinder.

Kleine Kinder sind harmlos, ihre Hinterhältigkeit beschränkt sich darauf, dass sie scheinheilig fragen, ob hier jemand was Gesundes aus Milch will, und dann alle Fruchtzwerge allein aufessen. So weit die Werbung. Bei Antje Wagner zeigt sich, dass die Kindheit ein Abgrund ist, an dessen Rand man haltlos entlang taumelt, und überall lauern Monster, die dich hineinschubsen wollen. Das kann der Murgor am Teich sein mit seiner Pfeife und seinen tödlichen Drohungen oder die Motte, die durch deine Augen in dich eindringt, falls du sie nachts aufmachen solltest.

Manchmal sind es sogar die eigenen Eltern, dann gibt es gleich gar keine Aussicht auf Rettung mehr. So wie in „Ausfälle“, der besten Geschichte des Bandes. Hier wechselt sich die Realität eines sich im Krankenbett systematisch zu Tode hungernden Mädchens mit einer Märchenerzählung ab, in der das Mädchen seine seelische Verwundung symbolisch überhöht zum Ausdruck bringt. Dieser Kontrast bringt dem Leser auf beklemmende Art das Gefühl der Ausweglosigkeit nahe.

Weniger überzeugend ist Wagner, wenn ihre Nüchternheit einem bemüht lyrischen Tonfall weicht. „Ich lebe sie“, das von einer Art schizophrener Spaltung handelt, wird dadurch unnötig pathetisch, der kurze Abschlusstext „Eisblumen“, ein in Sprachkitsch abgleitendes Märchenpoem, stört nachhaltig den Eindruck professioneller Erzählfertigkeit. Zwei Seiten weniger wären hier wesentlich mehr gewesen. Auch zeigen sich manchmal, wie in „Katzenliebe“, Schwächen in der Plausibilität ihrer Konstruktionen. Die maßlose Zuneigung dreier Geschwister zu ihrem Haustier, die bis zum Mord führt, wird nicht nachvollziehbar.

Doch in ihren besten Momenten sind Wagners Kurzgeschichten lakonische Protokolle verdrängter Schrecknisse, die unablässig an die Oberfläche kriechen wollen, sachliche Berichte von unkontrollierbaren Ängsten, die stets dort lauern, wo man sich eigentlich am sichersten glaubt: in den eigenen vier Wänden, in der Familie, im Bett oder im eigenen Kopf. In kurzatmigen, teils abgehackt wirkenden Sätzen führt sie uns aufs Glatteis, das zuerst rutschig ist, dann immer dünner wird und schließlich, häufig erst im allerletzten Satz, einbricht. Wo es ihr gelingt, den Leser mitzunehmen, da schafft sie es auch, ihn mit sich nach unten zu ziehen. SEBASTIAN DOMSCH

Antje Wagner: „Mottenlicht“. KiWi-Paperback, Köln 2003. 159 S., 7,90 €