Kleine Prinzessin stramm auf Kurs

Annette Pehnt legt mit „Insel 34“ eine weitere Apologie auf den Eigensinn und die Macht der Fantasie vor

Die 36-jährige Annette Pehnt ist eine weise Autorin. In Rezessionszeiten, in denen ein öffentlicher „Erfolg“ ständig als Hauptwährung eines geglückten Lebens gefeiert wird, schreibt sie Geschichten von begabten jungen Menschen, die trotz ihres Talents an einer Karriere im landläufigen Sinne scheitern. Oder besser gesagt: gerade deswegen. Schon Dorst, der unzugängliche Einzelgänger in ihrem Debütroman „Ich muss los“, gab sich beim Lernen keine Mühe und brachte es trotzdem zu einem „Einserabitur“. Gegen den Willen seiner Mutter aber weigerte er sich danach, die Provinz zu verlassen und draußen „etwas aus sich zu machen“. Dorst zog das unglamouröse Dasein eines Stadtführers vor, der sich die Geschichten seiner Führungen selbst ausdenkt.

Ähnlich verhält es sich nun mit Pehnts neuer Romanheldin. Wie Dorst erringt die junge Frau beste Schulnoten, hat aber mit der Erwartungshaltung ihrer Eltern zu kämpfen. Vor allem dem Vater reichen die brillanten Zeugnisse der Tochter nicht. Er, ein Gemütsmensch, der sich für vieles schnell begeistern kann, bemängelt ihre Nüchternheit und vermisst, dass „ihr Herz für irgendetwas schlägt“. Trotzdem ist er schließlich bestürzt, als seine Tochter mit 16 Jahren beginnt, sich ernsthaft für etwas zu engagieren. Weder er noch ihre Lehrer können verstehen, warum die Ich-Erzählerin sich ausgerechnet in einen abgeschiedenen Ort vernarrt, anstatt alterstypisch für Jungs, Musik oder Mode zu schwärmen.

Auf einer Landkarte entdeckt die Schülerin die titelspendende „Insel 34“ inmitten einer Inselgruppe vor der heimischen Küste und erwählt sie zu ihrem Sehnsuchtsziel. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei um jenen Flecken im Meer, der „am weitesten weg“ vom Festland liegt und kaum erforscht ist. Ein idealer Fluchtpunkt vor den Anforderungen einer bedrängenden Außenwelt also. Hartnäckig plant die junge Frau ihre Entdeckungsfahrt, die zum Sinnbild einer Suche nach Identität wird. Je höher sich die Hindernisse auftürmen, je mehr Unsympathisches ihr widerfährt, desto eifriger verfällt die junge Forscherin ihrer Mission. Ob steife Brise oder störrische Insulaner: Ihre Tour wird zur ersten wirklichen Bewährungsprobe, zu einer Art Initiationsritus in poetischer Widerständigkeit.

Annette Pehnt hat also erneut eine Apologie auf den Eigensinn und die Macht der Fantasie geschrieben. Noch stärker als Dorst ist ihre Inselforscherin von dem Wunsch getrieben, fern vom standardisierten Ringen um ein Massenglück etwas zu finden, das nur sie allein betrifft und das lähmende Gefühl einer kontingenten Schicksalsbeliebigkeit vertreibt. Was wie eine Lebenschronik beginnt, wandelt sich bald zur Parabel, in der die Realität deutlich verzerrt erscheint. Wenn etwa die Bewohner auf Insel 28 als wortkarge, ruppige Menschen beschrieben werden, die eher spucken als sprechen und Kartoffelschnaps trinken, dann wirkt das wie die übertriebene Version nord- und ostfriesischer Insulaner, die Fremden oft misstrauisch begegnen und für Außenstehende mitunter merkwürdige Riten pflegen. An solchen Stellen liest sich Pehnts Buch sehr amüsant und hat etwas von „Gullivers Reisen“ oder dem „Kleinen Prinzen“.

Leider dauert es nur ziemlich lange, bis die Heldin endlich in See sticht. Über ein Drittel des Romans sucht sie vorher Bibliotheken auf, wühlt sich durch alte Bücher und beschreibt lakonisch ihren Werdegang zur Außenseiterin. Dass sich dabei auch gewisse Manieriertheiten einschleichen, verlangsamt die Handlung zusätzlich. Sätze wie: „Mein Vater war jemand, der sich schnell zum Glühen bringen konnte. Meine Mutter wartete im Hintergrund und wärmte ihre Hände an seiner Glut.“

An solchen Stellen beschleicht einen das mulmige Gefühl, dass der Autorin vor lauter Verliebtheit in den Klang gesuchter Formulierungen etwas die Linie entgleitet. Ein Verdacht, der durch einen perspektivischen Bruch noch verstärkt wird. Wenn die Erzählerin nach ihrer Abreise plötzlich von der Nacherzählung in den Tagebuchbericht verfällt, klingt das, als hätte sich Pehnt vorab nicht recht entscheiden können, ob sie nun lieber eine Lebensbeichte oder ein Abenteuermärchen schreiben wollte. Dieser fehlende Mut zu Kürze und Prägnanz ist schade und wirkt wie ein unnötiger Flüchtigkeitsfehler einer zweifellos sehr begabten Autorin. GISA FUNCK

Annette Pehnt: „Insel 34“. Piper Verlag, München 2003, 189 S., 16,90 €