Aufzeichnungen eines Pointenjägers

Wie einer in Leningrad zur Welt kommt, in New York aufwächst und als Exilheimkehrer in Prag zu einem sehr untypischen Helden reift: Gary Shteyngarts „Handbuch für den russischen Debütanten“ ist eine verführerische Mischung aus Kalauern, historischen Anspielungen und identitätspolitischen Volten

von KOLJA MENSING

Broadway, Ecke Battery Place. Im Wartezimmer des „Emma-Lazarus-Vereins zur Förderung der Immigrantenintegration“ wachen ausgebildete Assimilationsmoderatoren über den Waffenstillstand zwischen Türken und Kurden, während Tutsi hinter Hutu friedlich Schlange stehen. Nebenan im Internationalen Salon findet derweil die wöchentliche Haustierschau der Einwanderer statt, diesmal angeführt von einer bengalischen Schildkröte. Das ist Amerika!

Inmitten dieser multikulturellen Utopie arbeitet die Hilfskraft Vladimir Girshkin, Sohn russischstämmiger Juden, die einst aus Leningrad in die neue Welt aufgebrochen sind. Der Vater ist ein melancholischer Arzt, die Mutter eine hysterische Unternehmensberaterin und Vladimir ein Einzelkind, das sich vor Neurosen kaum retten kann. Zwar ist er mittlerweile überzeugt davon, nicht schwul zu sein, zittert dafür aber den Nächten mit seiner peitschenschwingenden Lebensgefährtin Challa entgegen. So beginnt „Handbuch für den russischen Debütanten“, der erste Roman des 31-jährigen amerikanischen Schriftstellers (und russischen Emigranten) Gary Shteyngart, wie eine Mischung aus „Portnoys Beschwerden“ und einem Woody-Allen-Drehbuch: eine bittere Komödie voll spätpubertärer Verzweiflung und jüdischem Selbsthass.

Vladimir Girshkin fühlt sich fremd in seinem Land. Doch als er kurz nach seinem 26. Geburtstag Challa verlässt und sich in Fran, die Tochter einer uramerikanischen und neureichen Familie, verliebt, bemerkt er, dass der „jüngst erfolgte Fall der Berliner Mauer“ ihn „irgendwie zeitgemäß gemacht“ hat. Plötzlich trifft er auf slawophile Collegestudenten, die ein paar Brocken Russisch sprechen und über die wahre Botschaft von Turgenjews „Aufzeichnungen eines Jägers“ belehren. Und alle schwärmen von einem Ort namens Prawa, dem „Paris der 90er-Jahre“.

Schließlich schickt Gary Shteyngart auch seinen „untypischen Helden“ auf diesen „Tummelplatz der amerikanischen Künstlerelite“. Vladimir will dort allerdings keine Gedichte schreiben, sondern mit einem russischen Mafioso namens Murmeltier den amerikanischen Langzeittouristen das Geld aus der Tasche ziehen: „Von heute an war er Vladimir, der Exilant, ein Titel, der nach Luxus, Dekadenz und Rüschenkolonialismus roch. Oder vielmehr Vladimir, der Exilheimkehrer, der zurückging zu seinen Wurzeln, der sich aussöhnte mit der Geschichte.“

In Prawa wird man unschwer Prag erkennen, wo in den frühen Neunzigern tatsächlich viele junge Amerikaner Bohemiens spielten. Shteyngart aber ist die Wirklichkeit noch nicht absurd genug. Darum erfindet er für seinen Roman nicht nur eine Stadt, sondern gleich ein ganzes Land, die Republik Stolowaja. Der Name bedeutet im Russischen so viel wie „Kantinenrepublik“ und spielt auf die Selbstbedienungsmentalität der westeuropäischen Spekulanten an. Damit nicht genug: Stalin hat in Prawa ausgerechnet einen gigantischen Fußabdruck aus Beton hinterlassen, das bevorzugte Getränk ist ein Bier namens „Unesko“, und das Murmeltier, nach guter russischer Tradition ein bekennender Antisemit, grunzt wohlig, wenn der „Jud“ Vladimir ihn in der Sauna mit Birkenzweigen peitscht: „Boshe moi, das sind echte Schmerzen.“

Das „Handbuch für den russischen Debütanten“ versammelt die Aufzeichnungen eines Pointenjägers: eine verführerische Mischung aus wohl überlegten Kalauern und historischen Anspielungen, identitätspolitischen Volten und zynischen Randbemerkungen. Christiane Buchner und Frank Heibert haben das alles treffsicher übersetzt, und so liest sich dieses Debüt praktisch von ganz allein. Es fällt einem schon gar nicht mehr auf, dass das Fundament dieses umfangreichen Romangebäudes etwas wackelig geraten ist.

Vladimirs Suche nach sich selbst führt ihn ja nicht wirklich „zurück zu seinen Wurzeln“, sondern nur in einen ehemaligen sowjetischen Satellitenstaat, der auf dem besten Weg ist, eine amerikanische Kolonie zu werden. Der zugegebenermaßen „untypische Held“ hat kein Ziel, sondern läuft immer nur davon, und vielleicht wechselt er darum auch so leidenschaftslos von seiner Domina zur nicht weniger sadistischen Fran und in Prawa schließlich zu der mehr oder weniger geheimnisvollen Morgan, die aus Cleveland stammt, aber flüssig Stolowakisch spricht.

Man erfährt nicht, was Vladimir, abgesehen von seiner unterdrückten Kastrationsangst, in die Arme dieser Frauen treibt, und genauso wenig versteht man, was ihn zuletzt zurück in den fruchtbaren Schoß von Mama Amerika führt. Vielleicht sind es tatsächlich nur die wahnwitzigen äußeren Umstände und die strukturellen Anforderungen eines Happy Ends. Hier, in dem Land, „wo die Morgenzeitung pünktlich um halb acht auf der Türschwelle landet“, soll nämlich Vladimirs Sohn geboren werden: kein Einwanderer, sondern ein hundertprozentiger „Amerikaner in Amerika“. Bis zu diesem, dem letzten Absatz war der Roman zumindest unterhaltsam. Danach ist er nur noch kitschig.

Gary Shteyngart: „Handbuch für den russischen Debütanten“. Aus dem Amerikanischen von Christiane Buchner und Frank Heibert. Berlin Verlag, Berlin 2003, 491 Seiten, 22 €