„Es herrscht die Sachsengängerei“

INTERVIEW NICK REIMER

taz: Bundespräsident Köhler empfiehlt, wirtschaftliche Unterschiede zwischen Ost und West als gegeben hinzunehmen. Muss man das?

Helga Schultz: Wer so etwas sagt, akzeptiert, dass landstrichweise ganze Schulklassen wegen Perspektivlosigkeit aus dem Osten in den Westen abwandern. Ein Präsident aller Deutschen darf so etwas nicht akzeptieren.

Köhler sagte ebenso, dass es Nord-Süd-Unterschiede gibt. In Sachsen und Brandenburg sind am Wochenende Landtagswahlen, bei der Wirtschaftspolitik eine zentrale Rolle spielt. Wer macht aktuell die bessere?

Regionale Wirtschaftspolitik spielt heute in der globalen Welt nur noch eine geringe Rolle. Zwar schreibt sich Sachsens CDU gern die Ansiedlungserfolge etwa von VW oder Infineon auf die Fahnen. Die Investoren wären aber auch unter einer SPD- oder sogar einer PDS-Regierung gekommen.

Wie das?

Wichtigster Beweggrund, irgendwo ein Werk zu bauen, ist die Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften. Im Raum Chemnitz–Zwickau gab es durch die Trabant-Werke gute Leute, im Raum Dresden traf das für die Mikroelektronik zu. Dort wurde 1878 die erste Rechenmaschine der Welt gebaut, in der DDR gab es Robotron und zahlreiche Forschungseinrichtungen.

Immerhin hatte auch Frankfurt an der Oder ein großes Halbleiterwerk. Trotzdem sind die Bemühungen der regierenden SPD gescheitert, dort eine milliardenteure Chipfabrik anzusiedeln. Hat die SPD-Politik daran Schuld?

Weder das DDR-Halbleiterwerk noch das Umfeld boten Investoren attraktive Voraussetzungen. Die Facharbeiter sind inzwischen abgewandert. Deshalb sind seriöse Investoren ja auch nach Sachsen gegangen. Für Brandenburg blieben nur die Windigen, mit denen ein solch teures Projekt nicht funktionieren kann. Dass ist wie beim Cargolifter oder beim Lausitzring: Wenn man der Brandenburg-SPD einen Vorwurf zu ihrer Wirtschaftspolitik machen kann, dann allenfalls den, zu lange auf Großprojekte gesetzt zu haben. Anders als in Sachsen sind die nämlich im dünn besiedelten Brandenburg nicht tragfähig.

Hätte eine konservative Regierung ihre Wirtschaftspolitik stärker auf den Mittelstand ausgerichtet?

Wahrscheinlich nicht. Ein Möbelwerk mit zwanzig neuen Arbeitsplätzen einzuweihen ist medial nicht sonderlich attraktiv.

In den Zwanzigerjahren war das heutige Brandenburg deutschnational gestimmt. Sachsen gilt dagegen als die Wiege der Sozialdemokratie. Drei Generationen später ist es umgekehrt. Wundert Sie das?

Im Gegenteil, es erscheint logisch. Der real existierende Sozialismus pervertierte nach dem Zweiten Weltkrieg viele sozialdemokratische Ideen. Die einstigen Akteure wendeten sich entweder ab oder wurden ununterscheidbar von der SED. Das hat zur Folge, dass sozialdemokratische Haltungen heute in Sachsen diskreditiert erscheinen. Während die SED die sächsischen Industriereviere desaströs vernachlässigte, brachte sie Brandenburg eine bis dato nicht gekannte Industrialisierung. Die Stahlwerke in Eisenhüttenstadt oder der Stadt Brandenburg, die Chemiewerke in Schwedt oder Premnitz, die Braunkohleindustrie um Senftenberg – es wurden beeindruckende Kombinate aus dem Boden gestampft. Das dadurch entstandene Industrieproletariat fühlt sich dieser Aufbauleistung bis heute stark verbunden.

Sehen Sie Mentalitätsunterschiede in beiden Ländern?

Natürlich: Sachsen sind geprägt durch Urbanität, durch die über Generationen geprägte Disziplin und Innovation der Industrie. Das heißt: Sachsen haben verinnerlicht, immer wieder etwas Neues zu probieren; nach Wegen zu suchen, wie es besser geht. Nicht umsonst begannen die Wendegeschehnisse in Sachsen. Durch die stärkere Bevölkerungsdichte sind Sachsen geselliger, wegen ihrer Tradition extrovertierter. Brandenburger haben dagegen immer in kleinen Dörfern und Städten gelebt. Sie sind erdverbunden und dickschädlig, Neuem gegenüber eher skeptisch. Alle klugen, schöpferischen Köpfe sind immer nach Berlin gegangen. Das hinterlässt natürlich Spuren. In den preußischen Ostprovinzen herrschte die sprichwörtliche Sachsengängerei: Zum Arbeiten ging man nach Sachsen.

Glauben Sie, dass Mentalitätsfragen heutzutage Investitionsentscheidungen beeinflussen?

Nein. Eine Rolle spielt aber, ob ein Investor weit und breit das einzige Großprojekt starten soll. Investitionen brauchen Agglomeration. Wie richtig dieser Lehrsatz ist, hat die DDR-Industriepolitik hervorragend bewiesen. Eine der Maximen der SED war die Überwindung der regionalen Unterschiede. Industrie sollte also gleichmäßig über das Land verstreut werden. Erreicht wurde das nie. Es erwies sich nämlich als zu teuer. Tatsächlich wurden entgegen der erklärten SED-Politik die meisten Investitionen in Sachsen getätigt. Da war schon was, die Agglomeration funktionerte. Das macht auch den Unterschied in der wirtschaftspolitischen Bewertung aus: Biedenkopfs CDU hat eines der potentesten Industriegebiete Europas übernommen, Stolpes SPD sollte industrielle Kerne retten, die schon zu DDR-Zeiten allenfalls künstlich funktionierten.

Wenn wir jetzt zusammenfassen: Sachsen hat wirtschaftlich alle, Brandenburg dagegen keine Chancen?

Überhaupt nicht. Sie vergessen das Zentrum des Landes Brandenburg: Berlin. Überall dort, wo Brandenburg an Berlin angrenzt, werden Wachstumsraten erzielt, die beispielhaft für Deutschland sind. Nicht umsonst sind die meisten Brandenburger Landkreise so geschnitten, dass sie an Berlin grenzen. Berlin ist also ein Motor – und wenn sie Daten wie Arbeitslosenzahlen oder Bruttoinlandsprodukt pro Kopf vergleichen, liegt Brandenburg auf demselbem Niveau wie Sachsen.

Der Zusammenschluss mit Berlin als wirtschaftliche Chance für Brandenburg?

Unbedingt. Der ist aber auch im Interesse von Berlin. Die Landesgrenze ist Unsinn. Immer mehr Berliner wohnen in Brandenburg und zahlen dort Steuern, nutzen aber auf ihrem Arbeitsweg jene Infrastruktur, die Berlin finanzieren muss. Das funktioniert auf Dauer nicht.

Zuletzt scheiterte der Zusammenschluss an den Brandenburgern. Glauben Sie, dass das Projekt demnächst wieder auf die politische Tagesordnung kommt?

Brandenburg hat gar keine andere Wahl.

Bei all den Unterschieden, die sie jetzt illustriert haben: Geben Sie Köhler da nicht doch Recht?

Die Unterschiede zwischen Sachsen und Brandenburgern sind nicht so groß wie die zwischen Brandenburgern und Niedersachsen. Natürlich hat das auch teilungsbedingte Gründe. Die Hauptursachen liegen aber in den vergangenen fünfzehn Jahren: Es gab im Osten eine massive Deindustrialisierung. Und die ist nun mal Produkt der jüngeren deutschen Politik.