Aromatische Dreifaltigkeit

„Ick mock die eem een Tass Tee“: Mit diesem Satz beginnt eine für Ortsfremde oft knifflige Zeremonie. Denn vor dem Genuss des ostfriesischen Nationalgetränks lauern ungeschriebene Regeln

von MAREIKE ADEN

Ostfriesland. Ostfriesland ist Teeland. Doch das war nicht immer so. „Drinkt Tee, leeve Ostfreesen“, predigten Pastoren im 18. Jahrhundert von ihren Kanzeln. Sogar Kirchenlieder sollten auf das fernöstliche Kraut, von den Schäflein damals skeptisch beäugt, aufmerksam machen. Viele von ihnen bevorzugten eine andere Flüssigkeit als Grundnahrungsmittel: den Alkohol. Denn das Brunnenwasser war in vielen Dörfern durch organische Stoffe verseucht und daher ungenießbar. Den Predigern erschien das neue Produkt „Tee“ als wahrer Segen und eine Möglichkeit, die Trunksucht einzudämmen. Daher auch das ostfriesische Sprichwort: „Tee is Verstandswater.“

Die Pastoren predigten, die Gemeinde folgte und schon bald entwickelte sich die koffeinhaltige, mit Mineralstoffen versetzte Flüssigkeit zum ostfriesischen Nationalgetränk. Der preisgünstige Assam-Tee aus Indien schmeckte sehr bitter, und so kamen der dicke, weiße Kandis namens Kluntje und Sahne zusammen mit der Teekanne, dem „Treckpott“, auf den Tisch. Mit dem milden Tee aus China, der bereits im 17. Jahrhundert in die Region kam, stillte nur die ostfriesische Oberschicht ihren Durst. Die ostindische Kompanie sorgte mit ihrer Monopolstellung dafür, dass die Preise oben blieben.

Heute ist das Aufguss-Getränk wie Otto und die Schwarzbunten ein Markenzeichen der Region. Jeder Ostfriese verbraucht jährlich rund 2,7 Kilogramm der aromatischen Blätter aus Asien und liegt mit Kuwait, Großbritannien und Irland in der Spitzengruppe der internationalen Tee-Trinker. Zum Vergleich: Der Bundesdurchschnitt liegt bei 220 Gramm Tee pro Kopf und Jahr.

„Ick mock die eem een Tass Tee.“ Mit diesem Satz beginnt meist eine Teezeremonie, die für Nicht-Ostfriesen gar nicht so leicht zu bewältigen ist. Einen Knigge für Teetrinker gibt es nicht, ungeschriebene Gesetze bestimmen das Geschehen am Küchentisch. „Niemals unaufgefordert den ,Treckpott‘ der Gastgeber anfassen“, ist die erste Lektion, die sich Laien merken müssen. Aus Rücksicht auf die schlanke Linie auf Kluntje und Sahne verzichten? Zumindest bei der ersten Tasse ist das undenkbar. Die wird traditionell „dreilagig“ genossen. Und auch danach sollte die „Dreifaltigkeit“ beibehalten werden. Tee wird nun mal durch die Sahne-Wolke getrunken. Es folgt die Herbe der Blätter und schließlich der süßliche Geschmack des Kluntjes. Umrühren ist eine Todsünde: Denn die Sahne, die an den Innenrand der Tasse „gelegt“ – nicht etwa „gegossen“ oder „getropft“ – wird, muss als zartes Wölkchen langsam in der bräunlich-roten Flüssigkeit aufsteigen. Außerdem zu beachten: Kekse immer erst nach der ersten Tasse knabbern, damit der Tee-Geschmack nicht verfälscht wird.

Wer die Tasse erst mal in der Hand hält, kann kaum noch etwas falsch machen. Erstaunlicherweise gibt es ausgerechnet dafür keine Vorschriften. Erlaubt ist, was gefällt: Entweder man fasst den kleinen Henkel der meist dünnwandigen Porzellantasse oder umschließt sie mit der ganzen Hand. Es ist nicht mal verpönt, die Tasse mit beiden Händen zu umfassen. Schließlich hatten die Gefäße, aus denen die Ostfriesen früher ihren Tee genossen, oft keine Henkel. Und nicht selten war das Aufwärmen der Hände eine willkommene Nebenerscheinung einer Teezeremonie nach langer Feldarbeit bei Wind und Wetter.

Ach ja: Ist der Teedurst gestillt, den Löffel in die leere Tasse stellen. Sonst wird nachgeschenkt – immer wieder. Da sind Ostfriesen unerbittlich.