Ein spät geschlossener Kreis

Nikolai Galuschkow musste drei Jahre lang auf dem Friedhof der Gethsemane-Gemeinde arbeiten – als Zwangsarbeiter. 60 Jahre später kehrt er auf Einladung der Kirche erstmals zurück nach Berlin

VON ALENA SCHRÖDER

Nikolai Fjodorowitsch Galuschkov hat die Reise seines Lebens angetreten. „Jeder will doch an den Ort zurück, an dem er seine Jugend verbracht hat“, sagt er. 34 Stunden Zugfahrt liegen hinter ihm, von seiner russischen Heimatstadt Orel über Moskau bis nach Berlin. Erstmals seit beinahe 60 Jahren betritt er Berliner Boden. Die drei Jahre seiner Jugend, die er hier verbracht hat, gehörten der evangelischen Gethsemane-Gemeinde in Prenzlauer Berg. Auf ihrem Friedhof musste Nikolai Galuschkow Gräber ausheben und tausende Kriegstote verscharren – als Zwangsarbeiter.

Heimweh, Angst, Hunger und Kälte sind die prägendsten Erfahrungen, die er als Jugendlicher in der deutschen Reichshauptstadt machte. Zwei Monate lang wurde er in den Kellern des Gestapo-Zentrale gefoltert, nur durch Zufall überlebte er ein Erschießungskommando. Jetzt steht er auf Gleis 15 am Bahnhof Lichtenberg im strömenden Regen, streicht seinen dunkelblauen Anzug glatt und strahlt. „Ich freue mich unglaublich, dass ich heute hier sein kann.“

Nikolai Galuschkow war 15, als er im Juli 1942 als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt wurde. In Berlin angekommen wurde er der Gethsemane-Gemeinde zugeteilt, die mit dem Gräberschaufeln auf ihrem Gottesacker nicht mehr nachkam. Wie viele andere Berliner Gemeinden auch empfand sie die Beschäftigung von so genannten Ostarbeitern offenbar nicht als Gegensatz zu christlichen Wertvorstellungen. Gemeinsam mit etwa 100 weiteren kirchlichen Zwangsarbeitern lebte Galuschkow drei Jahre lang in einem Barackenlager am Neuköllner St.-Thomas-Friedhof. 39 evangelische und drei katholische Gemeinden waren an dem Lager beteiligt, das als „kriegswichtig“ galt und noch 1945 in einem Abschlussbericht von Kirchenmitarbeitern als „gelungenes Projekt“ betrachtet wurde.

Für die Kirche war die Aufarbeitung ihrer Beteiligung am Zwangsarbeitersystem nicht leicht. Schon 1995 waren erste Akten in den Berliner Kirchenarchiven aufgetaucht, doch erst die bundesweite Debatte um die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern brachte eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema. „Das war natürlich für uns alle ein Schock“, sagt Gerlind Lachenicht von der im Jahr 2000 gegründeten Arbeitsgemeinschaft. „Erst waren wir ziemlich ratlos, haben uns aber schnell entschlossen, mit der Sache so transparent und offensiv wie möglich umzugehen.“

Seitdem versucht die Arbeitsgruppe so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Etwa zehn der ehemaligen Zwangsarbeiter wurden ausfindig gemacht. 2.500 Euro konnten bisher als eine Art symbolischer Entschädigung an jeden Überlebenden ausgezahlt werden, einigen finanziert die Gemeinde medizinische Behandlungen und Therapien. Zudem werden sie nach Berlin eingeladen, doch die meisten sind zu alt oder krank für die Reise.

Nikolai Galuschkow ist der erste russischen Kirchen-Zwangsarbeiter, der die beschwerliche Fahrt auf sich genommen hat. Er hatte selbst über Jahre versucht, seine Geschichte zu erzählen, Kontakt mit Archiven aufzunehmen um in den Akten Nachweise für seine Zeit in Berlin zu finden. Doch die deutsche Botschaft wies sein Anliegen ab, Briefe an Berliner Behörden blieben unbeantwortet. Erst als die Arbeitsgemeinschaft „NS-Zwangsarbeiter“ in seiner Heimatzeitung eine Suchanzeige schaltete, gelang der Kontakt.

Nikolai Galuschkow hat sich lang auf diese Reise vorbereitet, jetzt will er so viel wie möglich von der Stadt sehen. In der Tram setzt er sich an den vordersten freien Platz im Waggon. Früher musste er auf der 40-minütigen Fahrt zwischen Lager und Friedhof immer mit starr gesenktem Kopf in der hintersten Ecke stehen und durfte mit niemandem sprechen.

Am Alexanderplatz schöpft er Wasser aus einem Brunnen und trinkt. „Man kann doch nicht nach Berlin fahren und das Berliner Wasser nicht probieren“, belehrt er seine ungläubig blickenden Begleiter. Trotz seiner 77 Jahre haben seine Gesichtszüge etwas Jungenhaftes, sein Blick ist wach, und wenn er spricht, gestikuliert und lacht er viel. „Ist das überhaupt interessant, was ich erzähle?“, fragt er immer wieder.

Keine zwei Minuten lauscht er den russischen Ausführungen, die er bei der Stadtrundfahrt über Kopfhörer hört. Er erinnert sich selbst viel zu gut. Das Brandenburger Tor erkennt er sofort. Hier sei er barfuß an einem seiner freien Sonntage einmal zwischen den Trümmern spazieren gewesen. „Nur ein einziger Mensch ist mir damals begegnet, der Reichstag war völlig zerschossen, alles war wie ausgestorben“, erzählt er.

Auch an den U-Bahnhof Kochstraße erinnert er sich und dass es von dort nicht mehr weit war zu den Folterkellern der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße. Da saß er von Februar bis April 1945 ein, weil er sich einer antifaschistischen Untergrundbewegung angeschlossen hatte. „Wir bekamen kaum etwas zu essen und nur eine merkwürdige Flüssigkeit zu trinken. Wenn die Gefangenen versuchten, Kondenswasser von den Wasserrohren zu lecken, wurden sie entsetzlich geprügelt.“

Er habe immer daran geglaubt, zu überleben, auch dann noch, als er nur wenige Tage vor der Kapitulation mit etwa 40 anderen Gefangenen auf einem Feld bei Karow einem Erschießungskommando gegenüberstand. „Es gab ein Gerangel, wir Gefangenen wollten uns natürlich nicht ordentlich in einer Reihe aufstellen, damit sie uns einfach niedermähen. Ein SS-Mann schlug mir einen Gewehrkolben auf den Hinterkopf und ich ging zu Boden“, erzählt er. Als Galuschkow wieder zu sich kam, lag er neben einem Haufen lebloser Körper und sah einen ersten russischen Panzer heranrollen. Die rettende Sowjetarmee hatte Berlin erreicht. „Es ist meine Aufgabe, mich an all das so genau wie möglich zu erinnern“, sagt Galuschkow. „Die Seelen der Millionen Toten dieses Krieges würden mir sonst nicht verzeihen.“ Er fühle sich ein bisschen wie der letzte Mohikaner, sagt er und lacht verschmitzt.

Auch nach dem Krieg hatte Galuschkow Glück: Weil er noch sechs Jahre in der russischen Armee diente, blieben ihm weitere Repressalien erspart. Viele ehemalige Zwangsarbeiter galten in der Sowjetunion als Kollaborateure und mussten nach Kriegsende oft noch Jahre in sibirischen Lagern verbringen.

Gulaschkow hat bis zu seiner Pensonierung bei der Eisenbahn gearbeitet, „ohne die in Russland alles zusammenbrechen würde“, wie er stolz erzählt. Heute leitet er in seinem Heimatort einen Veteranenverein. „Über Vergebung zu sprechen, ist in Russland immer noch schwierig. Viele können sich von den alten Feindbildern nicht lösen“, sagt er. Umso schöner sei es doch, dass er heute mit Deutschen an einem Tisch sitzen und von seinen Erlebnissen erzählen könne, denn: „Nur in der Begegnung kann Wahrheit wachsen.“

„Das ist ein wichtiger Schritt über eine wichtige Schwelle“, sagt Nikolai Galuschkow, als er zum ersten Mal wieder durch das gusseiserne Tor des Gethsemane-Friedhofes tritt. Alles sieht aus wie damals: die lange Allee, das Haus des Friedhofsvorstehers, der ihn immer schikanierte, der alte Geräteschuppen. „Als ich hier gearbeitet habe, lag nie Laub auf den Wegen“, sagt er gespielt vorwurfsvoll in Richtung der heutigen Friedhofsvorsteherin. Er zeigt die Stelle, an der eine Fünf-Tonnen-Bombe ein ganzes Gräberfeld umgepflügt hat und wo er in ein altes Abflussrohr kriechen musste, um sich bei Fliegeralarm wenigstens vor den Splittern zu schützen.

Nur ein einziges Mal hat er sich während seiner Zwangsarbeiterzeit in die alte Friedhofskapelle geschlichen, der Zutritt war ihm streng verboten. Heute ist sie verfallen, die Fenster sind vernagelt, nur durch die offene Tür fällt ein wenig Licht in den staubigen Innenraum. Ob man nicht gemeinsam etwas singen wolle, fragt Galuschkow. Seine Begleiter stimmen „Dona novis pacem“ an und zum ersten Mal trübt sich sein Blick. Völlig regungslos steht er im Halbdunkel der leeren Kapelle. „Jetzt hat sich der Kreis geschlossen“, sagt er in die Stille. „Ich kann nach Hause fahren und sterben.“ Schnell wischt er sich eine Träne aus den Lachfalten und grinst, als sei nichts geschehen.