Allzu betroffen

Das neue St. Pauli-Musical „Heiße Ecke 24“ im Schmidts Tivoli misstraut den eigenen künstlerischen Mitteln

Früher war er sowas wie eine Institution, der Imbiss an der Ecke Reeperbahn/Hein-Hoyer-Straße. Nun ist er wieder auferstanden in Schmidts Tivoli, in Heiße Ecke 24. Doch nicht schäbig und grau wie ehedem, sondern clean im pastelligem Fifties-Diner-Look. Und damit vom Vorbild so weit entfernt wie das neue „St. Pauli Musical“ von den Realitäten auf dem Kiez.

Denn hier sind nicht nur die Pommes Attrappen. Die ganze bewährte Haus-Equipe hat in gewohnt flotter, wenn auch nicht eben neuer Manier, mitgestrickt: Corny Littmann – Regie, Martin Lingnau – Musik, Thomas Matschoß – Buch etc. Man hätte das Ganze getrost auch Pension Schmidt nennen können, wie die seit langem im Schmidt nebenan laufende Soap. Hier wie da wird – teils mit demselben Bühnenpersonal – versucht, aus dem täglichen Drama vor der Tür Honig zu saugen. Nur dass hier mehr gesungen wird, und zwar zu Live-Musik. Ansonsten sind sie alle da: Nutten und Bettler, Fußball- und Fickfans, dumme Rheinländer und Bayern, Schauspieler und Werber, Hehler und Zocker. Nach Möglichkeit treffen sie sich mehrmals: um Probleme zu bekommen und um sie zu lösen. Dabei alles derb amüsant, z. B. wenn die Huren beim Job über günstige Einkäufe bei Aldi sinnieren. Doch zugleich mit irritierendem Beigeschmack, weil es nicht bei den offensichtlichen Karrikaturen bleibt. Denn dem immer alberneren 24-Stunden-Bogen werden vorsichtshalber ein paar klitzekleine Betroffenheitsbrüche eingebaut. Etwa von Bernhard Hofmann als alternder Transe Gloria oder von Charlotte Heinke in Liebeswirren. Oder von Carolin Spiess, die mit einer Todesnachricht zu plötzlich ergreifenden, ehrlichen Tönen findet. Solche Einlagen wirken, als habe man dem eigenen Versuch, der ewigen verlogenen Reeperbahnromantik in klatschkompatibler Musicalatmosphäre satirisch beizukommen, misstraut. Als seien da Ausflüge auf abbildungsrealistisches Terrain gemacht worden, schlicht, um dem Vorwurf zu entgehen, ebenfalls nur zu verklären. Dabei hätte man bei dem aufwendigen Kiezspaß mit viel eingebauter Pauli- und Astra-Schleichwerbung doch nur dem Amüsierwillen des Publikums zu vertrauen brauchen. OLIVER TÖRNER

nächste Vorstellungen: 14.,15.10., 20 Uhr, Schmidts Tivoli