Tänzer einer Ausstellung

Die Choreografin Sasha Waltz stellt ihre faszinierende Inszenierung „Dialoge 09“ im Neuen Museum vor

VON ANNE PETER

Vor Nofretete kommen die Tänzer. Durch das Neue Museum wirbelt Bewegung, es wehen Klänge und Gesang. Sasha Waltz ist da. Mit „Dialoge 09“.

Seit längerer Zeit hat man in Berlin auf ein neues Stück der Choreografin gewartet. Zuletzt erkundeten ihre „Dialoge 06“ das Radialsystem und die „Dialoge 07“ das Pergamonmuseum. Ziemlich genau zwei Jahre ist das jetzt her. Nachdem sie eine Opern-„Medea“ in Luxemburg kreiert und zusammen mit dem Komponisten Wolfgang Rihm in Frankfurt die Arbeit „Jagden und Formen“ herausgebracht hat, setzt sie in Berlin nun die Dialog-Reihe fort. Immer aufs Neue erweist sich Waltz dabei als Spezialistin für die Synthese von Architektur und Tanz, die konkreten Räume sind stets zentral für ihre Arbeiten. 1999 ertanzte ihre Kompanie den Daniel-Libeskind-Bau des Jüdischen Museums. Wenig später ging daraus ihr berühmtes Stück „Körper“ hervor.

Nach dem Pergamonmuseum ist nun das Neue Museum an der Reihe. Publikum und Kritik waren begeistert von der Wiederaufbauarbeit, die der Architekt David Chipperfield dort in rund zehn Jahren Bauzeit vollbracht hat. Historische und neue Elemente setzt er kongenial zueinander in Beziehung und lässt sie verschmelzen.

Räume zum Staunen

Es sind Räume zum Staunen. Die Geschichte des im Zweiten Weltkrieg stark beschädigten Gebäudes, das der Schinkel-Schüler Friedrich August Stüler entworfen hat und das für Jahrzehnte als Ruine dalag, wird nicht historisierend kaschiert, die Wunden und Brüche werden selbstverständlich aufgenommen. Reste von Wandmalereien, abgeblätterte Farbe, Bewahrung des Fragments.

Waltz nennt das, was sie mit 70 Tänzern, Musikern und Sängern dort veranstaltet, eine „temporäre Ausstellung“, die Premiere eine „Vernissage“. Die Tänzer geben darin die zum Leben erwachenden Statuen, die auf Vorsprüngen harren, sich in Nischen drapieren und erst allmählich in Bewegung kommen.

Es beginnt fast unmerklich – plötzlich liegt da ein Cellist starr wie eine umgefallene Figur auf der breiten Treppe. Neben den schwarz-steinernen Löwen am Fußende stehen bewegungslos zwei Tänzer, die sich irgendwann hinunterbeugen und dem schwarzen Stein zuflüstern – ein geheimer Weckruf? Im Ägyptischen Hof im Untergeschoss wühlen sich zwei Tänzer, ein Mann und eine Frau, aus einer körnigen Masse. Erst sind sie fast ganz davon bedeckt, dann treten Teile des Körpers langsam wie im Relief hervor, eingeschmiegt ins Material. Es scheint, als würde hier der Stein lebendig, als könnte man dem unsichtbaren Künstler bei der Meißelarbeit zusehen. Auch die Auferstehung von Toten klingt in diesem Bild an. Rund um den Umlauf, von dem aus man auf die Szene hinunterschauen kann, werden die Arme gewinkelt, die Hände flach gehalten, wie auf den altägyptischen Darstellungen, die hier mal die Wände zierten. So erwachen überall im Museum bewegte Vorboten der Kunst, die hier bald zu sehen sein wird: die Exponate des Ägyptischen Museums, der Papyrussammlung und des Museums für Vor- und Frühgeschichte. Auf Vorsprüngen kauern, in den Nischen klemmen die Körper.

Vom Fries zum Tableau

Sie nehmen die Formen und Linien auf, die die Räume mit ihren Säulen, Rundbögen und Fertigteilmosaiken anbieten. Die Kreise auf dem Boden werden im Gang nachgezeichnet, Säulen laden zu Schwingchoreografien ein, die vielen Türen eines Raumes zum Versteckspiel und ein Fries zu mimetisch sich entwickelnden Tableaus. Anderswo greifen gespreizte Hände das Sternenmuster des Fußbodens auf. Blickt man zur Seite, taucht in der Flucht neben den drei fast unbekleideten Tänzerkörpern ganz hinten deren weiße Statuen-Entsprechung auf.

Immer wieder, je nachdem wohin und von wo aus man schaut, tun sich solch verblüffende Korrespondenzen auf. Die Zuschauer können in den parallel betanzten Räumen frei umherschweifen, sodass es immer ein bisschen Zufall bleibt, was man sieht und was nicht. Und manchmal versammelt sich die Menge, etwa in der Mitte des zweieinhalbstündigen Abends im monumentalen Betontreppenhaus.

Ein wenig wird die Aufmerksamkeit durch die Musiker und Sänger des Vocalconsort Berlin und des Solistenensembles Kaleidoskop gelenkt. Unwillkürlich locken die Melodien der Streicher oder ein Trommelrhythmus, in denen sich, wie im Chipperfield-Bau, die Zeiten verbinden: Fetzen klassischer Musik mischen sich unter Zeitgenössisches.

Das einzig Problematische dieser faszinierenden Großraum-Installation sind die Zuschauerschwärme, die sich unkontrolliert umherbewegen und an unvorhergesehenen Stellen ballen. Sie wirken fast fehl am Platze, nicht recht eingeplant. An manchem gehen die Besucher wie an den Bildern einer Ausstellung beinahe achtlos vorbei, tuscheln vielleicht halblaut mit dem Nachbarn und klacken mit den Stöckelschuhen weiter in den nächsten Raum. Das ist die Natur einer Vernissage, möchte man meinen, aber die oft behutsamen, äußerst konzentrierten und teils geradezu mit heiligem Ernst vollzogenen Choreografien bräuchten in vielen Fällen die Stille und die Weite der leeren Räume. Und doch ist die Performance als „temporäre Ausstellung“ bezwingend stimmig. Wird das Ganze dabei doch lesbar als Metapher für das potenziell Lebende, die Beweglichkeit der Kunst, mag sie auch aus noch so fernen Zeiten stammen. Bleibt zu hoffen, dass sich diese Dynamik auf die Exponate überträgt, die bald dort ausgestellt werden. Sasha Waltz hat den Boden bereitet. Nofretete kann kommen.