Jenseits der Caritas

Die Grundrente stößt bei der Mehrheit der deutschen Eliten auf wenig Gegenliebe. Dahinter steht eine krude Leistungsideologie, die langfristig leistungsfeindlich wirkt

Differenzen sind natürlich, es wird stets Hierarchien geben. Freiheit erfordert Unterschiedlichkeit

Seit vielen Jahren findet die Idee einer Grundrente in Deutschland Widerhall. Doch der ist eigentümlich begrenzt. Über zwanzig Jahre lang fochten der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf und der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel für eine steuerfinanzierte Grundrente auf Sozialhilfeniveau – allerdings um den Preis, dass oberhalb der Grundrente nur private Vorsorge walten sollte. Allein die Grünen vertraten zumindest in den Achtzigerjahren im politischen System ein Grundrentenmodell, und zwar als Kombination aus einer über eine Wertschöpfungsteuer finanzierten Grundrente und einer beitragsfinanzierten obligatorischen Zusatzrente, was etwa dem damals in Schweden geltenden Rentensystem entsprach. Doch die Nähe zur Macht machte die Grünen in Sachen Grundrente schwach. Schon lange vor Eintritt in eine rot-grüne Bundesregierung vertraten die Grünen nur noch, wie auch die Sozialdemokraten, eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter – die dann 2001 auch beschlossen wurde und 2003 in Kraft trat.

Seitdem gab es eine ganze Reihe von Expertenkomissionen und -berichten zum Thema Rentenreform. Alle waren sich einig: Die Grundrente sei nichts für die Deutschen, sie bedeute die „völlige Abkehr vom Prinzip der Beitragsäquivalenz“. Das Zauberwort der „Beitragsäquivalenz“ geistert etwa durch den gesamten Bericht der von der Bundesregierung eingesetzten Rürup-Kommission. Abgesehen davon, ob die „Beitragsäquivalenz“ wirklich das optimale Gestaltungsprinzip für obligatorische Alterssicherungssysteme ist, angesichts ihrer prägenden Kraft für das deutsche System kann man sie sicher nicht vollständig aufheben. Doch das Beispiel der Schweiz zeigt, dass es auch mögliche Mischformen zwischen Grundrente und beitragsbezogener Rente gibt.

Der Rürup-Bericht spricht gleichwohl von der Grundrente als Gottseibeiuns. Denn selbst der vorsichtige Vorschlag der katholischen Verbände (und des Christsozialen Horst Seehofer) einer aus Beiträgen aller Bürger finanzierten „Sockelrente“ in Höhe von 410 Euro im Monat wird radikal verworfen – und zwar nicht aufgrund einer sachlichen Diskussion, sondern weil sie als „ein erster Schritt in Richtung auf ein steuerfinanziertes Grundrentensystem“ anzusehen sei. Und das sei von Übel. Besonders merkwürdig mutet für eine rot-grüne Kommission die umverteilungspolitische Begründung an: „Immerhin sind zurzeit gut 16 Beitragsjahre als Durchschnittsverdiener erforderlich, um eine Rente in Höhe von etwa 410 Euro pro Monat zu erhalten. Dies entspräche etwa einer Teilzeitbeschäftigung zum halben Durchschnittsentgelt über einen Zeitraum von mindestens 32 Jahren.“ Die Kommission, die überwiegend aus gut gesicherten Beamten bestand, scheint in solcher Umverteilung einen sozialistischen Irrweg zu vermuten. Die Schweiz lebt mit mehr Umverteilung ganz gut.

Wie kann es dazu kommen, dass der ältere Teil der jüngeren Generation – denn diese saß in beiden Kommissionen – so wenig aus den Erfahrungen der Nachbarländer (nicht nur der Schweiz) lernen möchte? Zweifellos wäre die Einführung einer Grundrente mit manchen technischen Problemen verbunden. Doch diese sind lösbar. Der Vorschlag der „Sockelrente“ ist ein möglicher Einstieg. Verbunden mit der Erweiterung der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer Bürgerversicherung, also der Einbeziehung der gesamten Bevölkerung, wäre es möglich, den Bereich der Sockel- beziehungsweise Grundrente zunehmend zu erweitern und zugleich die höheren Rentenansprüche abzuschmelzen. Verfassungsrechtliche Einwände dagegen sind haltlos. Denn das Bundesverfassungsgericht fordert mit dem „Eigentumsschutz“ der Rentenansprüche stets nur eine relative Positionssicherheit innerhalb der Hierarchie der Leistungsbezieher. Diese garantiert auch die Schweizer Alters- und Hinterlassenenversicherungen (AHV) – und das weitaus gewisser als das selektive deutsche System.

Hinter der Grundrentengegnerschaft steht schlicht eine krude Leistungsideologie, die langfristig sogar leistungsfeindlich wirken wird. Diese Ideologie wird wissenschaftlich bemäntelt und durch zwei Argumentationsfiguren geprägt, prototypisch bei Bernd Raffelhüschen und Frank Nullmeier, den von den Grünen nominierten Mitgliedern der Rürup-Kommission. Zum einen soll die Alterssicherung stärker privatwirtschaftlich orientiert werden. Dass ihre Renditeerwartungen höchst vage sind, zudem eine Umverteilungswirkung zugunsten von Erziehungsleistenden und Einkommensschwachen entfällt, wird dabei übersehen. Eine andere, nicht minder ideologische Denkfigur behauptet den „sozialen Vergleich“ als Grundlage moderner Gesellschaften und verknüpft die Argumentation für die (Einkommens-)Unterschiede auf nicht weniger neoliberale Art mit einem halbgaren Begriff „sozialer Wertschätzung“. Dass gerade eine Grundrente Ausdruck von „Wertschätzung“ aller Bürger sein kann, als Ausdruck sozialer Grund- und Menschenrechte, spielt dabei keine Rolle.

Um die kulturelle Bedeutung der neoliberalen wie konservativen Einseitigkeit recht einzuschätzen, lohnt ein Blick in ein ganz und gar verfängliches Organ, die rechtsnationale Zeitschrift Junge Freiheit. In der Ausgabe vom 20. September breitete sich unter der Überschrift „Sozialstaat abbauen“ eine elitär-feudalen Zeiten hinterhertrauernde Dame darüber aus, dass der Sozialstaat die „natürliche Rangordnung“ unter den Menschen trübt: „Nur darum geht es, um die Rangordnung, weil es nur so Freude macht, etwas zu leisten.“ Generationensolidarität wird dabei unnötig: „Die fatale Macht der Leistungsschwachen und Leistungsunwilligen beruht letztlich auf der Unfähigkeit der Starken, ihre sozial privilegierte Stellung moralisch zu rechtfertigen.“ Rürup- wie Herzog-Kommission, überhaupt ein Großteil der deutschen politischen Elite, treten aus dem Dunstkreis jenes Denkens nicht heraus.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Natürlich sind Differenzen natürlich. Es wird auch stets Hierarchien geben. Freiheit erfordert Unterschiedlichkeit. Zudem werden die hier gescholtenen Eliten – vor allem die gut bezahlten und von Armut dank ihrer Legitimation beim Steuerzahler nie berührten Professoren und Spitzenbeamten – einwenden, dass sie keineswegs gegen eine Grundsicherung oder eine „Basisrente“ sind. Beißende Armut findet auch bei ihrem Sozialliberalismus und -konservativismus keine Gnade.

Wieso will die jüngere Generation so wenig aus den Erfahrungen der Nachbarländer lernen?

Die deutschen Eliten neigen zur Sicht, natürliche Differenzen zu verklären und sie nur ex post als politische Caritas auszugleichen. In der Schweiz – und in vielen anderen, kulturell und in Sachen Bildungsniveau den Deutschen keineswegs unterlegenen Ländern – wird für soziale Grundrechte plädiert, jedenfalls im Alter, für eine Kultur dem Markt vorgängiger Menschlichkeit. Die Deutschen in ihrer Mehrheit ahnen die Richtigkeit dieser Richtung, einige Mitglieder der Eliten auch.

MICHAEL OPIELKA