Der Stand-up-Präsident

George W. Bush liegt in den Umfragen zur Präsidentschaftswahl in Führung – nicht trotz, sondern wegen des Debakels im Irak. Es ist ihm gelungen, die Definitionsmacht über Erfolg zurückzuerobern

AUS WASHINGTONMICHAEL STRECK

Lange war John F. Kerry der „Comeback-Man“, mit dem man immer rechnen musste. Präsident George W. Bush schien sich derweilen an seinem selbst eingebrockten heißen Eisen Irak die Finger zu verbrennen. Nun ist plötzlich Bush der Stehaufmann. Kein Desaster wird ihm gefährlich. Es scheint, dass selbst verfehlte Politik auf einmal durch das Prisma des Sieges gesehen wird. Und Kerry umgibt bereits die Aura des Verlierers.

Dabei zeigen die Nachrichten jeden Abend, dass der Irak zum Terroristen-Tummelplatz Nummer eins geworden ist. Dazwischen zittert das politische Establishment in Washington, ob Nordkorea einen Berg weggesprengt oder eine Atombombe ausprobiert hat – ernsthafter Bedrohung wird also mit Diplomatie begegnet, erkennt der geneigte Medienkonsument. Terrorfürst Ussama Bin Laden narrt indes seiner Verfolger mit Videobotschaften zum „9/11“-Jahrestag und lässt den CIA mal wieder rätseln, ob er nicht rasiert im Café von Karatschi sitzt.

Bushs sichere Welt

Präsident Lyndon Johnson hatte 1968 noch Reste an Ehrgefühl. Angesichts trüber Friedensaussichten im Vietnamkrieg sah er sich mehr als Problem denn Beitrag zur Lösung und verzichtete auf eine Wiederwahl. Bush hingegen besteigt in bester Laune, ohne das geringste Zeichen von Schamgefühl, eine Wahlkampfbühne nach der anderen und predigt, dass die Welt sicherer geworden ist. Kerrys Widerworte stoßen auf taube Ohren.

Es geht hier nicht um das übliche verständnislose Kopfschütteln der Europäer. Selbst konservative Kommentatoren staunen über die Stimmungswende – schließlich gab noch jüngst eine Mehrheit der Wähler an, dass der Irakkrieg ein Fehler gewesen sei und die Nation in die falsche Richtung drifte – und fragen, ob es sich bei dem Phänomen um kollektiven Gedächtnisschwund, meisterhafte Manipulation der „Spin Doctors“ im Weißen Haus, Gewöhnung, den Start der Football-Saison oder Hurrikan „Ivan“ handelt.

Vielleicht gehören die schlechten Nachrichten mittlerweile zum Alltag. Es verhält sich mit ihnen dann wie mit muffigem Geruch, den man, lange genug ausgesetzt, nach einer Weile auch nicht mehr riecht. Nur eine dramatische Eskalation der Lage würde möglicherweise wahrgenommen. Niemand erwartet mehr spürbare Verbesserungen. Weniger schlechte Neuigkeiten werden auf einmal als Erfolgsmeldungen gewertet. Bush ist es dabei gelungen, die Definitionsmacht über Erfolg zurückzuerobern. Erfolg ist, wenn der Guerillakrieg im Irak bereits kommendes Jahres eingedämmt werden kann und die Armuts- und Unversichertenzahlen im eigenen Land nicht noch höher liegen. Außerdem ist jede noch so abscheuliche Nachricht relativ, wie Pentagonchef Donald Rumsfeld neulich feststellte. Jemanden vor laufender Kamera zu enthaupten sei barbarischer als jemanden an Stromkabel anzuschließen. Die eigene Missetat wird somit verharmlost.

Dem Bush-Team ist überdies meisterhaft gelungen, den Irakkrieg mit dem großen historischen Krieg gegen den Terror zu verweben. Ursache und Wirkung im Irak sind aufgehoben. Moktada al-Sadr ist der Grund, warum die Invasion notwendig war. Jeder Selbstmordattentäter und jede Sabotage hat den Krieg längst rückwirkend gerechtfertigt. Die bittere Ironie der Logik, mit dem Einmarsch eine neue Brutstätte für Terrorgruppen verhindern zu wollen, stattdessen das größte Terror-Rekrutierungslager geschaffen zu haben, hat sich aufgelöst in einem abstrakten Kampf für Freiheit und Demokratie an einem immer surrealer erscheinenden Ort.

Kerrys Knieschüsse

Und Afghanistan? Das Land am Hindukusch findet man jetzt wieder vor allem da, wo es früher auch schon war: in der Print- und Fernsehausgabe von National Geographic. Genug Steilvorlagen für die Demokraten, möchte man meinen. Doch Kerry brillierte vor allem darin, sich selbst ins Knie zu schießen. Erst ließ er sich von frustrierten Vietnamgefährten einschüchtern, die ihm seinen Wandel zum Kriegsgegner nicht verziehen haben und ihm nun Lüge und Verrat vorwerfen. Dann widersprach er sich in der Irakfrage so oft, dass man manchmal nicht mehr wusste, ob gerade Howard Dean oder George W. Bush spricht. Zuletzt stand es um die Moral seines Beraterteams so schlecht, dass der herzschwache Bill Clinton vom Krankenbett aus Wahlkampfnachhilfe geben musste.

Nun hoffen alle noch nicht ganz verzweifelten Liberalen auf die ausstehenden TV-Debatten. Spontanität und Details waren noch nie Bushs Stärke. Zudem verliert er gelegentlich die Kontrolle über seinen Redefluss. Doch diesbezüglich hat er clever beim Parteitag in New York vorgebaut und sich in einem Anflug von Selbstironie über seine Sprachfehler lustig gemacht.

Und wenn noch jemand glaubt, Bush würde sich den Sieg nehmen lassen durch die aufgewärmte Drückeberger-Geschichte aus dem Vietnamkrieg oder die neuen Vorwürfe, er habe als Student regelmäßig gekokst, der hat die Rechnung ohne die genialste aller Bush-Nummern gemacht: Seine späte Wiedergeburt zum Christenmenschen. Während Kerry unbarmherzig seine Vergangenheit um die Ohren geschlagen wird, erteilen die Amerikaner dem geläuterten Bush die Absolution.