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: Wir Schmarotzer

Der Kanzler hat versucht, die Hartz-Gesetze in der Verbraucherzeitschrift Guter Rat zu verteidigen. Dabei war er nicht gut beraten. Letztlich wirft er uns allen vor, dass wir den Staat ausnutzen, weil es uns an der rechten inneren Einstellung fehlt. Es mag ja sogar was dran sein, aber das ist nicht durch die Beschimpfung der BürgerInnen veränderbar, sondern nur durch nüchterne Analyse, der an geeigneten Stellen auch Taten folgen – und zwar Taten des Staates.

KOMMENTAR VON GERT G. WAGNER

Zuerst einmal muss man festhalten, dass im Bereich der sozialen Sicherung die meisten Leistungen von Versicherungen gewährt werden. Und die kämpfen weltweit dagegen, dass ihre Kunden versuchen, sie auszunutzen. Das liegt in der Natur einer Versicherung – gleichgültig ob diese staatlich oder privatwirtschaftlich organisiert sind. Durch kluge Regelungen müssen die Unternehmen sich gegen Missbrauch schützen – aber eine Beschimpfung der Kundschaft führt zu nichts. Es wäre auch unvernünftig, Versicherungen ganz zu verbieten, um jeden Missbrauch von vorneherein zu vermeiden. Und die deutschen Sozialversicherungen schützen sich durchaus: Sie verlangen hohe „Selbstbehalte“, d. h., sie ersetzen ausgefallenes Einkommen bei weitem nicht hundertprozentig. Bei Krankheit werden sogar zunehmend Zuzahlungen verlangt. Will der Kanzler die erhöhen?

Zudem wird in Deutschland – im Gegensatz zum Ausland – nur ein kleiner Teil der Sozialleistungen auf Antrag und nach Prüfung der individuellen Einkommenssituation gewährt. Dabei gibt es sicherlich Missbrauch – andererseits dürfte die Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe oder Wohngeld dies bei weitem übersteigen.

Bleibt noch ein Bereich staatlicher Leistungen, die der Kanzler nicht direkt im Auge hatte, wo es aber in der Tat massive Mitnahmeeffekte gibt: die staatlich bereitgestellte Infrastruktur, insbesondere im Bildungs- und Kulturbereich. Dort gibt es nicht nur bis weit in die Mittelschicht hinein „Mitnahmeeffekte“, sondern auch bei der „Oberschicht“: Denn Kindergärten, Gymnasien und Theater werden von dieser überproportional genutzt. Daran kann man nur wenig ändern. Aber obendrein kriegen die Mittel- und Oberschichtkinder auch noch das Studium geschenkt. Das könnte der Kanzler einerseits durch Stipendien für Kinder kleiner Leute, andererseits durch Studiengebühren viel besser gestalten. Aber: Er ist kategorisch gegen Studiengebühren.

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